Stotterstart
In der Menschheitsgeschichte hat es sehr lange gedauert, bis wir so richtig damit angefangen haben, nach Saccharose, also nach Kohlenhydraten auf Zuckerbasis, zu lechzen, wie wir es heute tun. Wollte man eine Speise unbedingt mit zusätzlicher Süße versehen, so war man entweder auf Honig angewiesen, den es ja nun auch nicht gerade in rauen Mengen gab, auf eingekochten Sirup aus Trauben- oder Fruchtsaft oder auf die eine oder andere süßliche Wurzel. Süße war zunächst einmal grundsätzlich ziemlich uninteressant.
Vielleicht erklärt dieser Umstand auch, dass die erste echte pflanzliche Zuckerquelle, das wilde Zuckerrohr, zwar schon seit mindestens 8000 vor Christus in Polynesien angebaut wurde – sich die Pflanze mit der Verbreitung nur lange Zeit ziemlich schwertat. Erst 2.000 Jahre später tauchte Zuckerrohr in Indien und Persien auf und dann tat sich erst mal sehr lange: gar nichts. Quellen vermuten, dass die Leute wohl nicht so recht wussten, was sie mit der Pflanze anfangen sollten, und darum einfach ihren Saft gewonnen und getrunken haben, der mit einem Zuckergehalt von um die 10 bis 20 % ja auch nicht gerade sooo süß schmeckt.
Jetzt aber …
Erst sechseinhalbtausend (ja: 6.500) Jahre später waren die klugen Perser auf den Trichter gekommen und haben eine Methode gefunden, wie aus dem Saft der kristalline, braune Zucker gemacht werden konnte. Den Zuckerhut haben sie damals gleich miterfunden. Mit den Expansionszügen der Araber rund ums Mittelmeer schaffte das Zuckerrohr Anfang des achten Jahrhunderts dann endlich den Sprung nach Europa und immer noch sollte es ein paar Hundert Jahre dauern, bis der Zucker so richtig populär wurde:
Zuerst mussten die Kreuzzügler ihn auf ihren Reisen den Arabern sozusagen abringen, indem sie deren Gebiete annektierten, um das mal so zu formulieren. Dann brachten sie nicht nur das Endprodukt, sondern vor allem das Wissen um seine Herstellung mit auf ihrem Weg zurück in die alte Welt. Daraufhin entschieden sich die schlauen Venezianer, dass es doch viel praktischer wäre, Zuckerrohr quasi um die Ecke in Gebieten anzubauen, über die sie – zumindest, was den Handel anging – die Kontrolle hatten: Kreta, Sizilien, Südspanien, die Kanaren, von wo das Zuckerrohr (viel) später dann seinen Weg nach Jamaika nahm.
Bittersüß
Das mag für die entsprechenden Herrscher, Landbesitzer, Produzenten und vor allem für die Händler eine tolle Sache gewesen sein, denn mittlerweile war Zucker zum sehr begehrten Gut in Europa geworden – das „weiße Gold“ in derartigen Mengen herzustellen, erforderte allerdings unfassbar viele Arbeitskräfte, sodass sich auch die herzlos-zynischen Menschenhändler und Sklavenverkäufer eine goldene Nase verdienten. Schätzungen zufolge wurden in den mehr als 400 Jahren des sogenannten „atlantischen Sklavenhandels“ zwischen 10 und 15 Millionen Afrikaner ins Verderben geschickt – oder anders gesagt: nach Amerika verfrachtet. Nicht nur von den bösen Spaniern oder Portugiesen übrigens. Auch die Holländer, die Franzosen, die Briten, die Nordamerikaner und ebenfalls so mancher Deutsche machten da gerne mit.
Spinnen denn jetzt alle?
Zurück zum Zucker: Dessen wirtschaftliche Bedeutung nahm über wenige Jahre dermaßen zu, dass es zunächst nicht etwa das Gold oder das Silber waren, die die Kolonialmächte so unfassbar reich machten (was viele ja heute noch glauben), sondern der Zucker, das weiße Gold.
Und nur, um mal ein weniger bekanntes Detail zu nennen (oder besser gleich zwei): Frankreich verzichtete im Jahr 1763 auf so gut wie alle seine territorialen Ansprüche in Kanada und trat sie an das britische Empire ab, damit es im Gegenzug von den Briten als Mutterland der Inseln Guadeloupe, Martinique und St. Lucia in der Karibik anerkannt wurde. Und weil natürlich allen klar war, dass es ohne Sklaven keinen Zucker gab, tat die hochgelobte Pariser Nationalversammlung etwas derart Unglaubliches, dass man es – nun ja – kaum glauben mag: Am 20. März 1792 wurde allen Ernstes die Geltung der während der Französischen Revolution ausgerufenen allgemeinen Menschenrechte aufs Mutterland, also auf Frankreich allein, beschränkt …
Weiter geht’s
Machen wir einen ganz kleinen Sprung von nur 100 Jahren, denn erst hier wendet sich das Zuckerblatt zum nächsten und vorerst letzten Mal noch einmal so richtig. Immer noch war Zucker sehr teuer und weit von der Massenware entfernt, wie wir sie heute kennen. 1801 allerdings nahm sich eine ziemlich schillernde Persönlichkeit namens Franz Carl Achard – oder François Charles Achard, wenn Ihnen das besser gefällt, seine Vorfahren waren französische Hugenotten – in Berlin der Sache an und fand nach einigem Hin und Her eine Methode, wie man aus schnöden Runkelrüben industriell gefertigten Zucker raffinieren konnte. Immerhin gelang es ihm schon im ersten Versuchsjahr, aus 250 Tonnen Rüben zehn Tonnen Kristallzucker zu gewinnen – eine Ausbeute von stattlichen 4 %.
Kurz entschlossen schrieb Achard, der übrigens entschiedener Gegner der Sklaverei war, einen Brief mit der Bitte um ein Darlehen über 50.000 Taler –an König Friedrich Wilhelm III. Als Referenz, Beweis, Sicherheit, Beleg oder wie immer man das nennen will, legte er dem entsprechenden Schreiben ein Tütchen bei, in dem sich etwas von „seinem“ Zucker befand. Vier Tage später hatte er das Geld.
Und jetzt?
Der Rest ist fast schon Geschichte: Mit der Industrialisierung wuchsen auch die Produktionskapazitäten rapide an, bessere Rüben wurden gezüchtet und um 1850 gab es bereits Zuckerfabriken mit einer Produktionskapazität von 2.500 Tonnen – pro Tag. Franz Carl Achard starb übrigens 1821 einsam und verarmt – tja ...
Und nur für den Fall, dass Sie noch mehr Zahlen möchten: Um 1800 herum betrug die weltweite Zuckerproduktion (also in diesem Fall die Produktion von Rohrzucker) 250.000 Tonnen. Im Jahr 1900 waren es elf Millionen Tonnen und heutzutage liegen wir bei um die 180 Millionen Tonnen Rübenzucker und sage und schreibe fast zwei Milliarden (kein Tippfehler) Tonnen Rohrzucker.
Und so träge, langsam und harmlos sein Anlauf auch gewesen sein mag: Der Zucker hat uns fest im Griff. Also Vorsicht! Das ist ein nicht immer netter Bursche …