Waldmeister

Wenn man sich mal vor Augen hält, wie viele verschiedene Pflanzen, Pilze und Kräuter in einem Wald so wachsen, dann muss ein Exemplar davon wirklich etwas ganz besonders Besonderes sein, bevor man ihm den offiziellen Titel „Meister des Waldes“ zugesteht. Was macht den Waldmeister also so wichtig? Kann er mehr als einfach nur duften? Wie und wann verarbeitet man ihn am besten? Und was muss man unbedingt wissen?

Ziemlich anregend

Sagen wir mal so: Wenn es ein ansonsten eher unscheinbares Kraut aus dem Wald schafft, als „Waldmeister“, „Herzfreud“, „Leberkraus“, „Sternleberkraut“ (Schweiz), „Reine des Bois“ (franz. Königin der Wälder), „Prvenac“ (serb. Anführer) oder auch „Wohlriechendes Labkraut“ Einzug in die Sprachen Europas zu halten, dann muss da schon ganz schön was dran sein. Und obwohl sein Duft sehr typisch und unverkennbar ist, tut uns der Waldmeister erst einmal überhaupt nicht den Gefallen, die Aromen im Wald maßgeblich zu beeinflussen, irgendwie aufzufallen oder auch sonstwie hervorzutreten. Wie kann das sein? Was ist das für ein seltsames Gewächs?

Das muss ja vielleicht ein Kraut sein

Na ja, immerhin liefert der Waldmeister, der botanisch übrigens „Galium odoratum“ heißt (odoratum bedeutet so viel wie „duftend“), reichlich Stoff für Anekdoten, zog in die Weltliteratur ein und machte auch ansonsten reichlich von sich reden. In der Schweiz zum Beispiel: Nach einer historisch nicht bestätigten, aber dennoch interessanten Erzählung sah der „Kräuterpfarrer“ Johann Künzle in den weißen Blüten des Waldmeisters ein weißes Kreuz. Und fromm, wie er nun mal war, soll er sich zu der Aussage aufgeschwungen haben, dass die Schweizer nicht von Gott verlassen werden würden, solange sie sein Kreuz hoch in die Luft hielten: Die Schweizer Flagge war geboren.
Theodor Fontane schrieb in seinem Roman „Irrungen und Wirrungen“ von 1888, dass ein richtiger Berliner nur drei Dinge im Leben brauche: eine Berliner Weiße mit Waldmeister, einen Kümmelschnaps und Porree (wobei die beiden Ersteren ja schon einigermaßen einleuchtend klingen – aber Lauch?).
Außerdem war er zusammen mit anderen Kräutern wichtiger Bestandteil des sogenannten Frauenbettstrohs, das Wöchnerinnen und ihren Babys in die Strohmatratze gelegt wurde, um durch seine beruhigende Wirkung Mutter und Kind zu entspannen. Darüber hinaus sollte Waldmeister auch wirksam Hexen, Dämonen und Magisches ganz allgemein abschrecken und wurde in Posen sogar Kühen verabreicht, die nichts mehr fressen wollten.

Was er hat, was andere nicht haben

Na gut. Dass Waldmeister seine ersten Weihen als wirksame Heilpflanze empfangen hat, gilt aber immerhin als sicher. Das ist vor allen Dingen auf einen Stoff zurückzuführen, den wir heute als Cumarin kennen und der als gefäßerweiternd, krampflösend, gut für die Leber und entzündungshemmend gilt. Zumeist wurde Waldmeister als Tee verordnet, der neben seinen heilsamen Eigenschaften auch ganz schön gut roch.
Interessant ist die Sache mit dem Duft bzw. mit dem Cumarin ohnehin. Der Pflanzenstoff riecht entfernt nach Heu und auch nach Vanille, kommt in der frischen Pflanze so aber erst mal gar nicht vor: Erst durch die Zerstörung der Pflanzenzellen, die durch Welkung, Trocknung oder Einfrieren entsteht, bildet sich aus einer Art Vorgängerstoff das Cumarin und erst jetzt verströmt die Pflanze ihren einmaligen, unverwechselbaren und fast schon betörenden Duft.

Wie erkennen?

Beim Pflücken hilft es also gar nichts, Blätter, Stängel oder Blüten zum Beispiel zwischen den Händen zu reiben – die Pflanze riecht frisch nach absolut nichts Besonderem, schon gar nicht nach Waldmeister. Versuchen Sie es also besser mit optischer Identifizierung: Die Pflanze ist grün, krautartig und wird maximal 50 cm hoch. Ihre Stängel sind kahl und tragen in größeren Abständen meistens acht Blattquirle (drei oder mehr Blätter setzen an einem Knoten an – es ist also ein gewissermaßen etagenartiger Aufbau) mit mehreren schmalen, glatten Blättern. Ihre Blüten sind klein und weiß und, wie wir schon wissen, kreuzförmig.

Worauf achten?

So weit, so gut, allerdings gilt Cumarin in hohen Konzentrationen als giftig. Das bringt uns direkt zum großen Paracelsus, der schon vor Urzeiten wusste, dass die Dosis das Gift macht – was gleichzeitig auch erklärt, warum der Waldmeister in manchen Gegenden systematisch ausgerottet worden war. Hätten sich die Leute einfach an Paracelsus gehalten, hätten sie sich diese Mühe eigentlich schenken können. 
Übrigens hat Cumarin die Eigenschaft, in besonders hoher Dosierung überhaupt nicht mehr gut zu riechen oder zu schmecken. Das erklärt, warum Waldmeister sehr gerne VOR seiner Blüte geerntet wird, die je nach Lage und Wetter zwischen April und Juni erfolgt. Mit der Blüte ist der Cumarin-Anteil nämlich besonders hoch, was aber keine Vorteile bringt, weil Waldmeister weder besser schmeckt noch besser wirkt, wenn man zu viel des Guten genießt.

Wie verwenden?

Waldmeister mit seinem Cumarin ist die Aromakomponente, die der Maibowle (Waldmeisterbowle, Maitrank, Maiwein) ihren typischen Geschmack verleiht; auch zur Aromatisierung von Limonaden, Apfel- und Traubensaft oder Cocktails wird Waldmeister genutzt. Neben der Herstellung von Getränken wird er hauptsächlich bei der Zubereitung von Sirup und Süßspeisen verwendet, zum Beispiel von Kompott, Gebäck und Torten, Götterspeise, Brause, Parfait und Eiscreme sowie zur Verfeinerung von Marinaden und Soßen. 
Allerdings ist es der Lebensmittelindustrie in Europa untersagt, Lebensmitteln Cumarin in Reinform zuzusetzen, weil man dann doch wohl ein bisschen die gesundheitlichen Risiken scheut. Nicht weiter schlimm, denn zur Erzeugung von künstlichem Waldmeistergeschmack darf ein Stoff namens 6-Methylcumarin in einer Menge von bis zu 30 mg/kg beigemengt werden – und der duftet und schmeckt als probates Cumarin-Derivat praktisch genauso (gut).

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