Tarte Tatin

Der typischste französische Apfelkuchen ist wohl die Tarte Tatin, die ihren Namen der Familie Tatin verdankt. Entdeckt wurde die Tarte Tatin, die seit 1898 gebacken wird, von einem Restaurantkritiker, der als Erster auf den Spuren des Reifenherstellers Michelin unterwegs war. Klassisch wird eine Tarte Tatin gebacken, indem auf eine Schicht aus Karamell Äpfel gelegt und auf dem Herd gegart werden. Wenn das Obst fast weich ist, kommt obenauf eine Schicht Mürbeteig, bevor das Ganze mitsamt der entsprechenden Pfanne in den Backofen wandert. Danach wird der Kuchen gestürzt, sodass der Teig unten und der Belag wieder oben ist. Eine klassische Tarte Tatin besteht aus Äpfeln oder Birnen und Mürbeteig, in herzhaften Varianten findet man sie aber auch mit Gemüse und Blätterteig.

Der Entdecker der Tarte Tatin

Würden wir nach den Lichtgestalten der französischen Küche gefragt, dann stünden ganz weit vorne bestimmt die Namen Auguste Escoffier und Paul Bocuse. Allerdings gab es da noch eine ausgesprochen schillernde Persönlichkeit, die der Bedeutung französischer Kulinarik unheimlichen Vorschub geleistet hat, obwohl Maurice-Edmond Sailland weder Koch war noch überhaupt auch nur ein bisschen kochen konnte. Zeitzeugen berichteten, dass er schon bei der Zubereitung eines einfachen Omeletts an seine gastronomischen Grenzen stieß.

Den Sohn eines wohlhabenden Schnapsbrenners aus dem westfranzösischen Angers zog es schon früh ins Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wo er eigentlich Literatur studieren wollte. Allerdings studierte er dann doch eher das pralle Leben und zog mit seinen Freunden kreuz und quer durch die Varietés, Nachtclubs und Kneipen, um im Morgengrauen eine Zwiebelsuppe in „Les Halles“ zu genießen – und die Erlebnisse der Nacht anderntags in amüsante, bald in der ganzen Stadt hochgeschätzte Kolumnen zu gießen: Er war eben mehr ein gewitzter Schreiber und weniger ein tiefschürfender Intellektueller.

Wenn es jedoch ums Essen und Trinken ging, dann machte ihm an Fachwissen, Kompetenz und Kenntnissen so schnell keiner etwas vor. Man sagt, er habe 3.000 Rezepte im Kopf gehabt und sich bis ins kleinste Detail mit Produktqualität und Zubereitung befasst. „Meide die linke Keule der Rebhühner. Denn sie stehen auf diesem Bein, und das lässt die Blutzirkulation träge werden“ ist so eine für Sailland typische Aussage.

Cur – wer bitte?

Aber natürlich veröffentlichte er seine Texte, Dossiers, Stücke, Geschichten, Beobachtungen, Romane und Kolumnen nicht unter seinem Geburtsnamen. Erstens umgab er sich zu seiner Zeit mit praktisch jedem französischen Künstler, Lebemann und Intellektuellen, den Paris zu bieten hatte, und der notorische Schwerenöter war auch regelmäßig bei den Damen der eher vergnüglichen Unterhaltung zu Gast. Zweitens herrschte im Paris dieser Jahre eine große Bewunderung für alles Russische vor und so wählte er, ganz wie es sich für einen großen Künstler gehörte, einen Künstlernamen, der irgendwie russisch klang: Curnonsky. Wie clever und geistreich der Mann war, versteht man noch besser, wenn man weiß, dass „cur non“ auf Latein „warum nicht“ bedeutet, aber das nur am Rande.

Auf jeden Fall prägte er zwei gastronomische Leitsprüche, denen er in seinem gesamten Leben und Werk konsequent folgte: „Der größte Grundsatz aller wahren Küche ist, dass die Dinge so schmecken sollen, wie sie sind.“ und „Gastronomadismus: Man muss reisen, überall alles probieren. Der Gastronom reist durch ganz Frankreich, um ein bestimmtes Gericht zu finden, wo es am besten zubereitet wird, und begleitet es mit Wein und Alkohol aus der gleichen Region.“

Auf dem Weg zur Tarte Tatin

Und dann hatte er einfach nur Glück. Der Reifenhersteller Michelin gab nämlich ein regelmäßig erscheinendes Magazin heraus, das der interessierten Leserschaft nicht nur die Vorzüge des Automobils schmackhaft machen wollte und ausgedehnte Autoreisen empfahl. (Logisch, immerhin wollte man, dass sich die Reifen schnell abnutzten, damit man immer wieder neue verkaufen konnte.) Es ging auch um den Lifestyle einer Kundschaft, die sich den Luxus von Urlaub, Reise und Auto leisten konnte. So wurde Curnonsky ab 1907 in schicke Wagen gesetzt und begann seine ausgiebigen Streifzüge durch ganz Frankreich mit dem Ziel, das beste Essen in den besten Restaurants aufzustöbern und auf höchst vergnügliche Weise von seinen gastronomischen Erlebnissen und Erfahrungen zu berichten. Er war also eine Art Restaurantkritiker, Reiseleiter, Kartograf, Schriftsteller und Missionar in Sachen guter französischer Küche.

Und bevor Sie jetzt fragen: Er teilte seine Kritiken zwar in verschiedene Kategorien ein und arbeitete für Michelin – den Guide Michelin mit seinen drei Sternen (ist einen Halt wert, ist einen Umweg wert, ist eine Reise wert) hat er aber nicht erfunden. Zumindest nicht aktiv.

Die Familie Tatin und ihr seltsamer Kuchen

Natürlich verschlug es ihn irgendwann auch in die Nähe von Orléans, genauer gesagt in das Örtchen Lamotte-Beuvron, wo er dem Hotel der Familie Tatin einen Besuch abstattete und nach der Spezialität des Hauses fragte. Zu seiner Überraschung wurde ihm ein Kuchen serviert, der sozusagen auf dem Kopf stand bzw. offensichtlich falsch herum gebacken worden war. Zwar war der Teig unten und die karamellisierten Äpfel oben, die Äpfel hatten aber einen Gargrad, eine Saftigkeit und eine süße Eleganz erreicht, die nach Einschätzung Curnonskys niemals dadurch zustande gekommen sein konnten, dass man einen Obstkuchen einfach so im Ofen backte.

Also fragte er nach dem Geheimnis der „Tarte Tatin“, die in dem Haus seit 1898 serviert wurde – schließlich war er als bekennender Gastronomade unterwegs –, und staunte nicht schlecht.

Das originale Tarte-Tatin-Rezept

„Nimm eine verzinnte Kupferform, etwa 6 cm tief, die innen gut mit einer Schicht Butter eingefettet wird, darüber kommt eine etwa 1 cm dicke Schicht Puderzucker. Dann fülle die Form mit einer Schicht geviertelter Äpfel oder Birnen; auf diese Viertel gib noch etwas Butter und Zucker, dann bedecke alles mit einem pfennigdicken Mürbeteig. Der Kuchen wird auf einem guten Kohlenfeuer gebacken, dann das Ganze (…) in einem mobilen Backofen (four de campagne) bei starkem Feuer. Backzeit: 20 bis 25 Minuten. (…) Die Tarte ist gar, wenn die Früchte golden sind und der Zucker etwas karamellisiert. Bedecke die Tarte mit dem Teller, auf dem sie aufgetragen wird, und drehe das Ganze schnell um, so dass die Früchte oben sind. Heiß servieren.“

 

Wie die Tarte Tatin entstanden ist

Natürlich wollte unser Gourmet auch noch wissen, wie man denn auf diese geniale Idee gekommen war, und musste sich noch einmal wundern, weil ihm gleich zwei Gründungsmythen aufgetischt wurden. Ein Mythos besagte, dass entweder Stéphanie oder ihre Schwester Caroline Tatin eines Tages völlig zerstreut eine Backform mit Äpfeln in den Ofen schob, ohne zu bemerken, dass sich noch gar kein Teig darunter befand. Als sie ihr Missgeschick bemerkte, legte sie ihn nachträglich obendrauf und stürzte den Kuchen später. In der zweiten Version stolperte sie, als sie den Apfelkuchen von der Küche ins Restaurant bringen wollte. Die Obstschicht blieb heil, aber der Boden war von dem Sturz beschädigt. Deshalb backte Mademoiselle Tatin kurzerhand einen neuen Teig und legte ihn später obenauf. Curnonsky war begeistert und veröffentlichte das Rezept für „La Tarte des Demoiselles Tatin“ im Jahr 1926.

Der Siegeszug der Tarte Tatin

Und wenn Sie jetzt meinen, Curnonskys Werke wären nur wenig gelesen worden, dann irren Sie sich gewaltig: Kurze Zeit später erschien der Kuchen nämlich im Pariser Nobelrestaurant Maxim’s auf der Speisekarte – und das war der Anfang der steilen kulinarischen Karriere des Kuchens. Heute gilt die Tarte Tatin als DER traditionelle französische Apfelkuchen, obwohl er auch hoch geschätzt wird, wenn man ihn mit Birnen, Quitten oder auch Pflaumen macht.

Darüber hinaus fanden die Köche und Konditoren es wirklich praktisch, dass durch die besondere Backtechnik auch festes Obst und – in den herzhaften Varianten – Gemüse schön durchgegart werden konnte, sodass das Vorgaren in einem anderen Gefäß komplett überflüssig war. Auch in diesen Variationen der Tarte Tatin wurde der spätere Belag bis kurz vor den endgültigen Garpunkt gebracht, dann mit dem Teig belegt (es gibt auch viele Rezepte mit Blätterteig, allerdings gilt nur der Mürbeteig als klassisch), dann im Ofen finalisiert und zum Schluss nur noch gestürzt.

Mit der oben im Rezept erwähnten Kupferpfanne ist übrigens wahrscheinlich eine Tortenpfanne gemeint. Relativ gelingsicher und kaum weniger stilvoll lässt sich eine Tarte Tatin aber auch in einer ausreichend hohen und hitzebeständigen Bratpfanne herstellen. Klar: Ein gutes Karamell zu kochen kann knifflig sein, und auch das Stürzen ist manchmal ein bisschen nervenaufreibend – mit etwas Übung ist eine Tarte Tatin aber kein Hexenwerk. Außerdem belohnt uns das typisch französische Dessert wie kaum ein zweites mit wunderbaren Aromen, Textur und Geschmack.

Kopfüber wie die Tarte Tatin

Der guten Vollständigkeit halber noch ein paar Sätze zu unserem Edelgastronomen: Sein Hauptwerk ist sicherlich seine immerhin 28 Bände umfassende Enzyklopädie „La France Gastronomique“, für die Curnonsky den im Auftrag Michelins begonnenen kulinarischen Entdeckungsfeldzug durch Frankreich vollendete. Auch die übrigen seiner insgesamt rund 70 Bücher kreisten vornehmlich um Kochkunst und Genuss.

Curnonsky rettete den in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts trotz Escoffier noch recht angeschlagenen Ruf der französischen Küche derart erfolgreich, dass ihn der Staat zum Ritter der Ehrenlegion ernannte. Und es war auch nur logisch, dass im Jahr 1927 3.300 französische Köche den gewichtigen Gourmet zum „Prince des Gastronomes“ adelten. Drei Jahre später gründete er nach dem Vorbild der altehrwürdigen Académie française die „Académie des Gastronomes“.

Maurice-Edmond Sailland starb 1956, indem er nach einer ärztlich verordneten Diät einen Schwächeanfall erlitt und (kopfüber, wie die Tarte Tatin) aus dem offenen Fenster seiner Pariser Wohnung auf die Straße fiel. Originell blieb er wirklich konsequent bis zu seinem Ende.

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