Sauerbraten

Im Grunde ist es ja eine bestechende Idee, wenn man ein besonders großes Stück Fleisch zuerst einmal kalt beizt und erst danach zum Schmorbraten macht: Zarter kann Fleisch dann überhaupt nicht mehr werden. Erfahren Sie hier mehr über die Ursprünge des Sauerbratens und was so besonders an ihm ist.

Der wilde Osten

Bevor wir uns gleich ins Rheinland, nach Baden, nach Sachsen und auch nach Westfalen begeben, lassen Sie uns einen kurzen Blick auf das Dörfchen Botai werfen. 350 Kilometer von der kasachischen Hauptstadt Astana entfernt, gäbe es im Grunde nicht viel über den Ort zu berichten, wenn, ja, wenn nicht ein paar sehr fleißige und findige Archäologen genau hier Ausgrabungen durchgeführt hätten – und mitten in der kasachischen Steppe auf die ältesten Belege dafür gestoßen wären, dass der Mensch das Pferd vor mehr als 5.500 Jahren definitiv domestiziert hat. (Und wenn Sie es etwas genauer mögen: Diese Zeit wird heute als „Kupfer-Steinzeit“ bezeichnet, womit der Übergang vom Stein zum Metall schon ganz gut beschrieben ist.)

Zur Zeit der Botai-Kultur lebten in der Gegend Millionen von Pferden – ihre Zahl und Bedeutung ist in etwa mit den ehemals riesigen Büffelherden der „Great Plains“ in den USA vergleichbar. Aber wenn man es eilig hatte und nicht andauernd enorme Strecken zurücklegen wollte, wenn man mal wieder etwas Vernünftiges zu essen brauchte, war es viel praktischer, die Tiere einzupferchen und sozusagen kontrolliert aufwachsen zu lassen. Das Reiten wurde eher ganz nebenbei erfunden; auch das legen die archäologischen Funde nahe.

Diese Sache mit Mensch und Pferd klingt vielleicht erst mal romantisch, wenn man an das sanfte Schnauben in der Kälte dampfender Pferde denkt, die voller Geduld und Anmut darauf warten, dass ihr Reiter mit etwas Heu in der Hand an sie herantritt und einen schönen Ausritt mit ihnen plant. Die wissenschaftlichen Ausgrabungen allerdings zeichnen ein weniger beschauliches Bild, denn von den mehreren Hunderttausend Tierknochen, die in Botai ausgegraben wurden, stammten 99,9 Prozent von Pferden. Was nichts anderes bedeutet, als dass die frühen Kasachen ihre Pferde an irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens verspeisten.

Die wichtige Ressource

Natürlich nutzten und ritten sie sie vorher auch, aber wenn die Tiere alt, schwach, verletzt oder zu nichts weiter zu gebrauchen waren, kamen sie in den Topf, wo sie als sehr wertvolle Protein- und Energiequelle ihrer letzten Bestimmung entgegengarten. Und warum auch nicht? Pferdefleisch ist einerseits relativ zart und mager (übrigens – und wer hätte das jetzt gedacht: je älter das Tier, umso zarter sein Fleisch), schmeckt vergleichsweise kräftig und besitzt einen recht hohen Anteil an Glykogen, einem Zucker, der auch für den typischen, leicht süßlichen Geschmack verantwortlich ist.

Mit der Ausbreitung des Pferdes auf sozusagen den ganzen Rest des Planeten in den folgenden Jahrhunderten hielt der Verzehr von Pferdefleisch logischerweise auch Einzug in so gut wie alle anderen Küchen; wer würde schon freiwillig auf solche Mengen wertvoller Nahrungsressourcen verzichten wollen? So stand Pferdefleisch schon bald fast überall auf dem Speiseplan.

Das ewige Hin und Her

Machen wir es aber ein bisschen kürzer und erwähnen nur am Rande, dass die noch recht junge katholische Kirche im 8. Jahrhundert den Verzehr von Pferd im Abendland untersagte (nur für die christlichen Bewohner Islands machte sie eine Ausnahme – weil klar war, dass die gottesgläubigen Menschen dort ohne Pferd schlicht verhungern würden …).

Irgendwann aber, wir reden über das 19. Jahrhundert, wurde der Bann aufgehoben und man „durfte wieder“. Natürlich wurde auch schon vorher unter der Hand ein gewisser schwunghafter Handel geführt, weil die Pferdeschlächter, die Abdecker, Pferdefleisch sehr wohl verkauften, wofür insbesondere die arme Bevölkerung ihnen überaus dankbar gewesen sein dürfte.

Aber warum wollte man Pferd überhaupt noch essen, wo doch an seine Stelle längst Rind, Geflügel und Schwein getreten waren? Ganz einfach: Sie waren trotzdem da und als Reit-, Zug- und Lasttiere unverzichtbar für Landwirtschaft und Verkehr. Und wenn sie hierfür nicht mehr taugten, kamen sie eben zum Schlachter, bevor ihr Hunger (und dementsprechend die Kosten) ihren Nutzen zu übersteigen drohte.

Die Frage der Vernunft

Mit dieser Erkenntnis wenden wir uns nun dem Sauerbraten zu: Frühling, Sommer und Herbst, das waren die Jahreszeiten, in denen Pferde fleißig arbeiten konnten und mussten – und zu denen auch reichlich kostengünstige Nahrung für sie zur Verfügung stand. Ging es aber auf den Winter zu, dann stand jeder Pferdebesitzer vor der Frage, ob es sich noch lohnte, ein altersschwaches und überarbeitetes Pferd durchzufüttern oder ob man es nicht doch lieber aus Kostengründen zu Wurst und Braten verarbeiten sollte. So gesehen ist es also überhaupt kein Zufall, dass der Sauerbraten – denn er wurde üblicherweise aus Pferdefleisch gemacht – zum typischen Wintergericht avancierte.

Nun gut, weiter oben hatten wir gesagt, dass Pferdefleisch immer zarter würde, je älter ein Tier war. An dieser Stelle müssen wir allerdings korrigierend erwähnen, dass das natürlich nicht für die äußerst hart arbeitenden „Gäule“ galt, die ihr Leben lang hart an der Belastungsgrenze geackert hatten. Hier waren die großen Muskeln ein überaus kompaktes Gewebe, das man nicht so einfach kauen oder gar genießen konnte. Dafür musste man sich etwas einfallen lassen.

Die doppelte Lösung

Die Lösung des Problems bestand darin, das Fleisch quasi zweimal zu garen, Fachbegriff: denaturieren. Und zwar einmal kalt mithilfe einer tage- bis wochenlangen Beize in Säure (also Essig), Salz, Alkohol, Gemüsen und Gewürzen und dann noch einmal heiß, indem man das Fleisch teils über Stunden schmorte, wodurch es noch zarter wurde. Und weil im Winter vor allem gegen Weihnachten hin streng gefastet werden musste, hatte man ohnehin das „Fastenbrot“ Lebkuchen (oder ein ähnliches Gebäck mit Nelke, Anis, Fenchel, Kardamom, Koriander, Piment – und bei sehr reichen Leuten gerne auch Zimt und Muskatnuss) im Haus, aus den Weintrauben im Herbst waren schöne Rosinen geworden und Sirup aus jüngst geernteten Äpfeln und Rüben stand mittlerweile ebenfalls in der Vorratskammer.

Der süße saure Braten

Das mit den Rosinen und dem Sirup machten allerdings unerklärlicherweise nur die Rheinländer so, die Baden, die Franken, die Sachsen und auch die Westfalen verzichteten (und verzichten bis heute) auf diesen genialen süßsauren kulinarischen Trick. Sie lieben ihren Sauerbraten so, wie er eben heißt: sauer. (Und sie setzen auch die Beize, die Marinade, anders an: Hier kommt oft Knoblauch zum Einsatz, Senfkörner, Zwiebeln, Korianderkörner und mehr Rotwein als Essig, was nachvollziehbar ist, wenn man denn schon in einem entsprechenden Anbaugebiet wohnt!)

Interessant ist, dass die Nicht-Rheinländer dabei keineswegs auf die weihnachtlichen Aromen des Lebkuchens verzichten wollen: Anstelle der „Aachener Printen“ oder eben des klassischen Lebkuchens (der ziemlich süß ist) verwenden sie gerne den „Soßenlebkuchen“ oder kurz „Soßenkuchen“, der zwar die gewünschten Gewürze enthält, aber fast ohne Zucker auskommt.

Sowohl Lebkuchen als auch Soßenkuchen eignen sich – außer für den schönen Geschmack – auch ganz hervorragend dazu, die spätere Soße zu binden, sodass auf die sonst übliche Mehlschwitze weitestgehend verzichtet werden kann.

Die perfekten Begleiter

Unnötig zu erwähnen, dass ein moderner Sauerbraten so gut wie immer vom Rind und praktisch nie vom Pferd stammt. Der Geschmack weicht natürlich etwas vom Pferdefleisch-Originalrezept ab, was aber absolut nichts daran ändert, dass Klöße bzw. Spätzle und Rotkohl perfekt geeignete Beilagen und geradezu unverzichtbar sind – und dass es im Rheinland außerdem sehr gerne noch ein bisschen Apfelmus sein darf!

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