Das war gründlich
Der erste Erdstoß dauerte irgendwas zwischen drei und sechs Minuten und erreichte eine Stärke von ca. 8,5 bis 9 auf der Momenten-Magnituden-Skala (die man nicht mit der Richter-Skala verwechseln sollte: Ihr Skalenende liegt bei 10,6 – was der Annahme entspricht, dass bei diesem Wert die Erdkruste vollständig auseinanderbrechen müsste).
Im Boden taten sich meterbreite Spalte auf und das Stadtzentrum Lissabons wurde praktisch sofort dem Erdboden gleichgemacht. Das, was von den Häusern noch übrig war, ging anschließend in Flammen auf. In ihrer Angst und Panik versuchten sich zahlreiche Stadtbewohner zum Hafen der Stadt zu flüchten, weil sie sich hier vor herabstürzenden Trümmern und natürlich vor den verheerenden Feuern sicherer fühlten. Genau das wurde ihnen dann zum Verhängnis: Ungefähr 40 Minuten nach dem Beben erreichte nämlich ein Tsunami geradezu apokalyptischer Dimensionen das Ufer, fegte alles davon und beendete das Leben zahlloser Menschen.
Etwas später folgten dann noch zwei kräftige Nachbeben und – als hätten sie sich abgesprochen – auch noch zwei kleinere Tsunamis. Moderne Schätzungen gehen davon aus, dass nach der Katastrophe im Jahr 1755 bis zu 100.000 Opfer in und um Lissabon zu beklagen waren. Und auch im immerhin 600 Kilometer entfernten Marokko starben bis zu 10.000 Menschen durch die Tsunamis.
Das war glücklich
Die Naturgewalten waren entfesselt worden und hatten ganze Arbeit geleistet. Umso erstaunlicher ist dabei allerdings, dass ein kleines Örtchen, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, wie durch ein Wunder so gut wie gar nichts von der Katastrophe abbekommen hatte. Weder nahmen die Gebäude nennenswerten Schaden noch brachen schlimmere Feuer aus noch erreichte das Wasser Belém (was das portugiesische Wort für „Bethlehem“ ist).
Folgerichtig finden sich in Belém heute einige der bemerkenswertesten Bauten, die Lissabon und ganz Portugal je hervorgebracht haben. Das unglaubliche und weltberühmte „Mosteiro dos Jerónimos“ zum Beispiel hatte die Katastrophe fast unbeschadet überstanden und wurde ob seiner Einmaligkeit und Schönheit im Jahr 1983 zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt. Und wenn es Sie interessiert: Am 13. Dezember 2007 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten genau hier den „Vertrag von Lissabon“ zur Neuordnung der Europäischen Union.
Die Grundsteinlegung erfolgte 1502 und bis das Ensemble so dastand, wie wir es heute bestaunen können, brauchte es ganze 70 Jahre. Dann endlich konnte der Orden des heiligen Hieronymus, die Hieronymiten, feierlich seinen Einzug halten. (Ein korrekter Zweitname lautet dementsprechend „Hieronymitenkloster“; die weit verbreitete Bezeichnung „Hieronymuskloster“ dagegen ist falsch, aber das nur am Rande.)
Das war praktisch
Die meist im Verlauf der mittelalterlichen Reconquista (also zwischen 722 und 1492) in Portugal gegründeten Klöster erhielten die Abgaben derjenigen, die ihre Ländereien nutzten, zum überwiegenden Teil in Form von Naturalien – die heiligen Hieronymiten von Belém machten da keine Ausnahme. Die zu großen Teilen bettelarme Bevölkerung gab ihren Beitrag häufig in Form von Eiern ab.
Insbesondere die Nonnenklöster nutzten das in Hülle und Fülle verfügbare Eiklar zur Stärkung ihrer Kleidung, vor allem der Hauben und Kragen. Für das in großen Mengen übrig gebliebene Eigelb fanden sie eher in Süßspeisen Verwendung, zumal mit der Entstehung des portugiesischen Weltreichs ab dem späten 15. Jahrhundert große Mengen Zucker ins Land kamen. Auch das Auftauchen neuer, bislang eher unbekannter Produkte prägte die Entwicklung der „Doçaria Conventual“, also der „klösterlichen Süßwaren“ – Mandeln und Zimt zum Beispiel.
Und sie waren fleißig und einfallsreich, die frommen Männer und Frauen: Heute zählen etwa 200 (!) verschiedene Süßspeisen zu dieser Gruppe und sind ein stilprägendes, sehr wichtiges und identitätsstiftendes Element der portugiesischen Küche.
Ein ganz besonders herausragendes Rezept hatten sich schon sehr früh unsere Hieronymiten ausgedacht. Sie produzierten mit großem Eifer und noch größerem Erfolg kleine gefüllte Gebäckstücke, die sie in all ihrer Schlichtheit „Pastel de Nata“ nannten. Die Törtchen bestehen aus Blätterteig, der mit einer Creme aus Eigelb, Zucker, Sahne (Nata) und Mehl gefüllt wird – im Grunde bestehen sie also aus Blätterteig und Konditorcreme, die ge- bzw. überbacken werden. Die Pastéis werden in Portugal meist mit Zimt und/oder Puderzucker bestreut serviert.
Das war unausweichlich
Aber es kam, wie es kommen musste: Mit der Liberalen Revolution in Portugal ab 1821 wurden mehr und mehr Klöster und Orden enteignet und waren zunehmend gezwungen, neue Einkommensquellen zur Existenzsicherung zu finden. Durch ihre Lage an wichtigen Überlandstraßen wurde die Bewirtung Reisender und insbesondere der Verkauf ihrer Süßspeisen eine wesentliche Einnahmequelle. In der Folge wurden die Doçaria Conventual auch in der breiten Bevölkerung bekannt und beliebt – allen voran die Pastel de Nata der Mönche aus Belém, die es immerhin schafften, ihr Kloster bis 1834 zu erhalten. Dann mussten allerdings auch sie aufgeben und verkauften ihr bis dahin eifersüchtig gehütetes Geheimrezept an eine benachbarte Zuckerraffinerie.
Wie genau dann die Wege verliefen, bis die Pastéis de Nata schließlich im Jahr 1837 von der Pastelaria (Konditorei) „Casa Pastéis de Belém“ unter dem Namen „Pastéis de Belém“ hergestellt und vertrieben wurden, ist heute nicht mehr zu sagen. Was man allerdings sicher weiß, ist, dass Pastéis auch international als bekanntester Vertreter der traditionellen portugiesischen Süßspeisen der Doçaria Conventual gelten.
Das war interessant
Das große Beben am Allerheiligentag, also am 1. November 1775, bedeutete übrigens nicht nur einen bemerkenswerten Riss in der Erdkruste ungefähr 200 Kilometer vor Lissabon im Meer. Es verschärfte auch die innenpolitischen Spannungen in Portugal und führte schließlich zu einem Bruch bei den kolonialen Bestrebungen des Landes. Ab diesem Zeitpunkt begann der einst strahlende Stern Portugals unaufhaltsam zu sinken. Unsere Pastéis de Nata dagegen betraf das alles natürlich nicht – fast könnte man sogar sagen, dass es ab jetzt für sie national und international erst so richtig losging.
Was sich bis heute kein Mensch wirklich erklären kann: Das erst kurz zuvor eröffnete große Opernhaus, der königliche Palast am Tejo-Ufer, die riesige Staatsbibliothek mit ihren über 70.000 Büchern und unschätzbar wertvollen Malereien von Tizian, Rubens und Correggio sowie den Aufzeichnungen von den Expeditionen Vasco da Gamas gingen unwiederbringlich verloren. Fast alle Kirchenbauten Lissabons wurden zerstört, darunter die Kathedrale Santa Maria, die Basiliken von São Paulo, Santa Catarina und São Vicente de Fora sowie die Kirche Igreja da Misericórdia. Das Hospital Real de Todos os Santos (Königliches Allerheiligenhospital – Sie erinnern sich: Das Beben ereignete sich an Allerheiligen) verbrannte in der Feuersbrunst, wobei Hunderte von Patienten ums Leben kamen.
Die Alfama, das berühmt-berüchtigte Rotlichtviertel der Metropole, blieb hingegen vollkommen unversehrt …