Die französische Küche genießt weltweit und vollkommen zu Recht einen Ruf wie Donnerhall, was angesichts der an den Tag gelegten Kreativität und Kompetenz der jeweiligen Kochkünstler natürlich kein Wunder ist. Und vielleicht könnte man auf die Idee kommen, dass das ja ganz bestimmt schon immer so war oder dass sich die hohe Kunst des Kochens über viele Jahrhunderte hinweg nach und nach zu dem entwickelt hätte, was wir heute sehen – nur ist das schlichtweg nicht so. Begeben wir uns also auf eine kleine Reise, lernen wir ein oder zwei ganz außergewöhnliche Persönlichkeiten kennen und verstehen, dass die weltweit zelebrierte französische Küche kaum einer Stadt so viel zu verdanken hat wie ausgerechnet London.
Bon appétit
Damit wir uns von Anfang an richtig verstehen: Die französische Küche war immer schon gut und lecker, was unter anderem daran lag, dass die Zutaten hochwertig und in großer Auswahl verfügbar waren. Grundsätzlich unterscheidet man heute zwischen der „hohen Kochkunst“ (Haute Cuisine), „gutbürgerlicher Küche“ (Grande Cuisine, Cuisine bourgeoise), „Regionalküche“ (Cuisine régionale) und der eher improvisierten „bäuerlichen Küche“ (Cuisine improvisée), wobei die Grande Cuisine die tendenziell eher schlichten, aber besonders wohlschmeckenden Gerichte beschreibt.
Der Begriff der Haute Cuisine verweist auf ein Ideal der Zubereitung von Lebensmitteln und Zutaten, wie es sich grob auf die Entstehung und Weiterentwicklung des professionellen Kochens seit Anfang des 18. Jahrhunderts zurückführen lässt. (Sie sehen also: Besonders alt ist die Tradition gar nicht!) Die Haute Cuisine ist äußerst erlesen, meist überaus kostspielig und dient weniger der Sättigung als vielmehr der Faszination des Gastes, was Kreativität, Ästhetik, Textur, Aroma und Geschmack betrifft. Die Haute Cuisine war und ist ein exklusives Erlebnis, das einem vergleichsweise kleinen Kreis von Kunden und Gästen vorbehalten ist.
Was war da eigentlich los?
Edel und ausgefallen zu speisen war zunächst einmal – wie könnte es anders sein – den ganz Reichen und vor allem dem Adel vorbehalten und ein entsprechendes Statussymbol. Hohe Häuser leisteten sich eigene Köche, weswegen es sehr lange dauerte, bis die hohe Schule des Kochens sich von den Palästen löste und etwas mehr ins Licht der Öffentlichkeit rückte. In Frankreich kann man sagen, dass erst mit oder kurz nach der Französischen Revolution von 1789 bis 1799 die wirklich guten Köche „auf den Markt“ kamen und erste anspruchsvolle Restaurants eröffneten, weil ihre ehemaligen Herrschaften verarmt, vertrieben oder verstorben waren und weil ihnen entsprechend gar nichts anderes übrig blieb, als „fremdzukochen“.
Außerdem muss man auch verstehen, dass die Gerichte meist Variationen der Grundidee „Fleisch oder Fisch mit Soße“ darstellten, was die Küche recht schwer und vergleichsweise ungesund machte: Sehr viel Butter und Sahne wurde verwendet, frische Salate waren entweder unbekannt oder als Hasenfutter verpönt und auch Gemüse wurde so ziemlich totgekocht. Überhaupt gab es einen Trend dazu, die Gerichte zu übergaren, weil die hygienischen Verhältnisse nicht die allerbesten waren und manche Ware nur auf ziemlich langen Wegen ihren Bestimmungsort erreichte.
Dann sollte man noch wissen, dass viele Küchen im Keller eines Hauses oder Restaurants untergebracht waren, dass man meist mit Holzkohle kochte, dass man – wenn es sie überhaupt gab – die Fenster nicht öffnete, damit die Speisen möglichst lange warm blieben, dass Köche oft halbnackt arbeiteten, um mit den vernichtenden Temperaturen überhaupt noch klarzukommen, und dass sie gegen den großen Durst reichlich Alkohol tranken.
Darüber hinaus gab es zwar einen Küchenchef, alle anfallenden Arbeiten wurden aber von demjenigen Unterkoch erledigt, der gerade in der Nähe und entsprechend greifbar war oder zufällig ein bisschen Zeit hatte. Der Chef schickte und brüllte und befahl wild in der Gegend herum, es herrschte oft das reinste Chaos und am Ende der Schicht waren alle vollkommen erschöpft, frustriert und besoffen – wovon der Gast selbst idealerweise natürlich nicht viel mitbekam.
Georges Auguste Escoffier
Die Lichtgestalt
So, genug gemeckert. Wir haben das auch nur getan, damit Sie die Leistungen der Lichtgestalt, mit der wir uns jetzt befassen wollen, besser einordnen können. 1846 erblickte nämlich unweit von Nizza ein gewisser Georges Auguste Escoffier das Licht der Welt, der mit 13 Jahren (gegen seinen Willen, eigentlich wollte er Bildhauer werden) eine Ausbildung zum Koch begann und der sich als absolut herausragendes Multitalent entpuppte: Schon im Alter von 18 Jahren wurde er Chefkoch in Nizza, mit 19 wechselte er ins Petit Moulin Rouge nach Paris. Ein Jahr später musste er seinen Militärdienst leisten und geriet später in Kriegsgefangenschaft. Auch hier kochte er, und zwar für den französischen General Patrice de Mac-Mahon, was nicht ohne Folgen bleiben sollte.
Wieder in Freiheit, wirkte er in verschiedenen Städten und verschiedenen Häusern und erarbeitete sich im Lauf der Zeit ein Können und eine Kompetenz, wie es sie bis zu diesem Zeitpunkt kaum jemals in der Gastronomie gegeben hatte. Und er machte so ziemlich alles anders als zu dieser Zeit üblich: Er vereinfachte die Rezepte. Er kochte auf den Punkt. Er machte die Küche leichter, indem er zum Beispiel Soßen reduzierte, statt sie mit Mehl zu binden, was außerdem auch mehr Geschmack mit sich brachte. Er machte die Menüs kleiner (statt bis zu 30 Gängen begnügte er sich mit höchstens zehn). Er öffnete die Fenster, stellte Eisenöfen auf, verbot Alkohol in der Küche, wurde niemals laut und vor allen Dingen: Mit militärischer Präzision organisierte er die Abläufe, die Befehlsketten, die Zuständigkeiten, die Posten und die Hierarchien in der Küche.
Die heutigen „Brigaden“ gehen auf Escoffier zurück – und auch der in der aktuellen Spitzengastronomie übliche ruhige und konzentrierte Ton in der Küche ist seine Erfindung. Er plante seine Küchen von A bis Z auf perfekte Praktikabilität, Funktionalität und Effektivität – auch hier gehen noch sehr viele heutige Gepflogenheiten der Küchenplanung auf ihn zurück.
Auch nicht schlecht
Gleichzeitig verstand er einiges von Marketing, denn nicht nur rissen sich die damaligen Superpromis darum, bei ihm essen zu gehen, weil es so gut, kreativ und köstlich war. Als wahrscheinlich erster Koch zeigte er sich auch nach dem Dinner den Gästen, plauderte mit ihnen und schmeichelte damit ihnen und ein bisschen auch sich selbst. Richtig clever war die Idee, besondere Kreationen nach den ultraberühmten Gästen zu benennen – Pfirsich Melba zum Beispiel ist nach der australischen Opernsängerin Nellie Melba benannt, die zu der Zeit so berühmt war wie vielleicht Madonna in den 1990er-Jahren. Da war Escoffier schon längst Küchenchef des sagenhaften „Savoy“ in London.
Willkommen im Ritz
Wie es ihn, den glühenden französischen Patrioten, nach London verschlagen hatte? Zwei Gründe: Erstens hatte er 1884 einen gewissen César Ritz kennengelernt und war eine sehr lange und fruchtbare Geschäftsbeziehung mit ihm eingegangen. Man könnte sagen: Was Escoffier in der Gastronomie konnte, das konnte Ritz in der Hotellerie. Ritz-Carlton, Ritz Paris, Ritz London – ihm haben wir die ersten Palasthotels zu verdanken, riesige Prachtbauten auf dem allerneuesten Stand der Dinge, luxuriös bis an die Ohren und natürlich mit einer absolut elitären Kundschaft. Immerhin war mittlerweile auch das schwerreiche Großbürgertum entstanden, Adel war längst nicht mehr die einzige Gruppe, die sich das Reisen und Logieren auf höchstem Niveau leisten konnte. Und die Idee war doch brillant: Die besten Hotels der Welt bekamen nun auch die beste Küche der Welt. Ritz und Escoffier – das war das absolute Dream-Team.
London also, damals die reichste und wohl größte Stadt der westlichen Welt. New York war zwar schon auf dem Sprung, reichte aber eben noch nicht ganz an die englische Hauptstadt heran. Dass das „Savoy“ – Hotellerie: César Ritz, Gastronomie: Auguste Escoffier – ein so durchschlagender Erfolg wurde, lag vor allem darin begründet, dass London zu der Zeit um 1890 die reinste kulinarische Wüstenei war: So ziemlich alle, die es sich hätten leisten können, auswärts auf höchstem Niveau zu speisen, beschäftigten entweder eigene Köche oder dinierten in ihrem Club. Das war der zweite Grund dafür, dass Escoffier den Wechsel wagte – er sah das Defizit und es reizte ihn ungemein, diese Lücke zu füllen. Über den Tellerrand zu blicken schlug entsprechend ein wie eine Bombe und es wurde geradezu zum gesellschaftlichen Muss, sich mindestens einmal pro Woche, besser aber noch jeden Abend im Savoy – oder knapp zehn Jahre später im Ritz-Carlton – blicken zu lassen.
Das Vermächtnis
Übrigens hatte Escoffier noch so ein paar Eingebungen, die seinen Ruf und Einfluss weiter deutlich vergrößern sollten. Zum einen schrieb er 1903 mit seinem „Guide Culinaire“ (Kochkunstführer) ein absolutes Standardwerk, das heute noch aufgelegt wird und fester Bestandteil der Küchenliteratur ist (mit Tausenden akribisch notierten Rezepten, zum Beispiel mit alleine über 200 Eierspeisen und 50 Grundsoßen …). Zweitens gab er sein Können und seinen Kodex durch sehr ausgeprägte Nachwuchsförderung an unzählige junge Köche weiter, die er entweder selbst ausbildete oder die durch von ihm ausgebildete Köche ausgebildet wurden – im Lauf der Zeit waren das Tausende.
Auguste Superstar
Nun lag ihm mit Monte Carlo, Paris und London bereits so ziemlich ganz Europa zu Füßen, als er auf den Gedanken kam, dass es in so ziemlich ganz Amerika nichts Vernünftiges zu essen gab. Die aufstrebende Nation war noch mit anderen Dingen beschäftigt, als fein zu speisen. Er machte sich also auf nach New York und wurde zu seiner großen Verwunderung nicht nur von sehr vielen, sondern vor allem sehr begeisterten Menschen in Empfang genommen – mittlerweile war er selbst zum internationalen Superstar avanciert, woran natürlich all die internationalen Prominenten, die seine europäischen Häuser besucht hatten, nicht ganz unbeteiligt gewesen waren.
Die USA also. Escoffier rechnete schnell einmal aus, dass es dem Land an mindestens 15.000 bis 20.000 exzellenten Köchen mangelte, führte ein paar Gespräche mit ein paar äußerst einflussreichen Personen und telegrafierte ein bisschen in der Gegend herum. Mit den nächsten Transatlantikschiffen kamen innerhalb kürzester Zeit mehr als 2.000 „Escoffier“-Köche an der Ostküste an und die kulinarische Erschließung der Staaten konnte beginnen. (Übrigens hatte keiner der Köche seine Überfahrt bezahlen müssen, die Verträge waren schon vor Abfahrt unterschrieben und Arbeitsbedingungen und Bezahlung waren ausgesprochen angemessen.)
Also?
Auguste Escoffiers „Guide Culinaire“ gilt als die formale Grundlage der Kochkunst des 20. Jahrhunderts, Escoffier selbst als Reformer einer allzu formalen und kaum auf Klarheit bedachten Küche. Anders als seine Kollegen der damaligen Zeit vereinfachte und optimierte er die komplizierte Zubereitung von Gerichten und machte sie leichter, gesünder und verdaulicher (eine Idee, die vor allem der weltberühmte „Koch des Jahrhunderts“ Paul Bocuse mit seiner nicht minder berühmten „Nouvelle Cuisine“ fortführte). Er widersprach der damaligen Auffassung, ein gutes Menü müsse aus einer Vielzahl von Gängen bestehen.
Escoffier gilt als Schöpfer der Grande Cuisine und als der Gestalter großer Küchenhierarchien, indem er die arbeitsteilige Organisation durch Spezialisierung der Köche auf Posten effizienter machte.
Escoffier war ein gelassener und ruhiger Küchenchef, der insgesamt 71 Jahre seines Lebens am Herd stand. Er hat viele bedeutende Köche bis heute maßgeblich beeinflusst.
Er schwor auf die Qualität seiner Ursprungsprodukte, für ihn war die Qualität der Ware Dreh- und Angelpunkt all dessen, was er in der Küche und in der Welt zustande brachte. Selbst in seiner Londoner Zeit bestand er darauf, dass so gut wie sämtliche Zutaten, Produkte und natürlich auch Weine aus Frankreich zu kommen hätten. In manchen Gegenden Frankreichs gab es Landwirte, Tierzüchter oder auch Fischer, die ausschließlich an Escoffier auslieferten, was dazu führte, dass sie sehr gut von ihrer Arbeit leben konnten und dass sie Qualitäten erreichten, die bis heute unübertroffen sind – genau wie die französische Küche selbst.
Nachdem er 1919 vom französischen Präsidenten zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen worden war, setzte sich Escoffier schließlich 1920 in Monte Carlo zur Ruhe, wo er 1935 im Alter von 88 Jahren starb – zwei Wochen nach dem Tod seiner geliebten Ehefrau Delphine.