Wie bitte?
Ganz ruhig bleiben! Auch, wenn es am Anfang vielleicht so scheint, als ob es hier gar nicht um die kleine chinesische Köstlichkeit geht: Sie sind goldrichtig! Einfach durch die ersten Absätze lesen – das Ganze löst sich weiter unten auf und hat durchaus seinen Sinn …
Bombyx?
Wenn „Bombyx mori“ aus der Familie der Bombycidae so ungefähr 30 bis 35 Tage nach dem Schlüpfen und vierfacher Häutung den Eindruck gewinnt, dass es allmählich Zeit für den nächsten großen Schritt in Sachen Weiterentwicklung wird, dann sucht er sich zunächst ein ruhiges Plätzchen und macht sich dort fest, bevor es wirklich richtig anstrengend wird. Kein Wunder, dass die Tiere in den letzten vier Wochen praktisch nichts anderes getan haben, als sich fleißig und ohne Unterlass an den Blättern des „Morus alba“ aus der Familie der Moraceae zu laben, um richtig zu Kräften zu kommen.
Metamorphose?
Denn die brauchen sie jetzt auch: Nachdem die Raupe des Seidenspinners nämlich satt von all den Blättern des Weißen Maulbeerbaumes ist, warten ein paar äußerst kräftezehrende Tage auf sie. Zunächst muss sie sich einen Kokon spinnen, in dem sie sich nach acht Tagen Wartezeit endgültig verpuppt. Dann folgt der überaus erstaunliche Umbau des Tieres von einer schnöden Raupe zu einem vollständig ausgebildeten Schmetterling, dessen Aussehen und Körperbau so überhaupt gar nichts mehr mit seiner Vorgängerversion zu tun haben: die Metamorphose, die nach weiteren acht Tagen abgeschlossen ist.
Filament?
Zugegeben, das meiste hiervon ist zwar interessant, für uns aber an dieser Stelle nur bedingt wichtig – bis eben auf die Sache mit dem Kokon-Spinnen, denn eigentlich beginnt genau hier unsere Reise zur Frühlingsrolle.
Um einen anständig stabilen Kokon zu bauen, muss sich die Raupe nämlich sehr vollständig und möglichst dick in einen Faden einwickeln, der wirklich hauchdünn ist. So hauchdünn, dass sie für die ungefähr 300.000 Wicklungen, die hierfür erforderlich sind, so zwischen 900 und 3.000 Meter Seidenfaden am Stück erzeugen muss, was den Faden zum längsten natürlich erzeugten Filament (Endlosfaden) der Welt macht.
Drei bis acht dieser Fäden (also von drei bis acht Kokons) werden – vorsichtig abgewickelt – zu einem Seidenfaden gehaspelt und bilden so die Grège, aus der dann später die Seide gewoben werden kann. Für 250 Gramm Seidenfaden sind ungefähr 3.000 Kokons mit einem Gesamtgewicht von ca. 1 Kilogramm erforderlich.
Indus?
Das Ganze ist also alles andere als einfach und da ist es umso erstaunlicher, dass dieses Wissen und diese Technologie bereits um 3000 vor Christus im Nordwesten Indiens (Indus-Kultur) und auch in Japan und China bekannt waren und fleißig für die Herstellung der alleredelsten Stoffe eingesetzt wurden.
Seide also. Der Stoff war extrem teuer und wertvoll, machte seine Erzeuger ebenso reich wie die Händler, die Handelszentren und ganze Landstriche. Auch in Europa übrigens, denn recht bald (na ja – das war wohl so um 500 nach Christus) waren sie auch hier hinter das Geheimnis gekommen, pflanzten fleißig Maulbeerbäume, machten ihre Seide irgendwann selbst und wurden endlich unabhängig von den ungewissen und langsamen Lieferungen (um die 18 Monate) über die legendäre „Seidenstraße“, die um 100 nach Christus entstanden war.
Neujahr?
Aber Europa soll uns an dieser Stelle nicht so sehr interessieren, wir bleiben in Asien und hier vornehmlich in China. Die Seide war hier nämlich über Hunderte oder eher Tausende von Jahren dermaßen identitätsstiftend, dass sogar die Chinesen selbst den Begriff „China“ kaum ohne das Wort „Seide“ denken konnten. Seide war (neben Tee natürlich) einfach DAS chinesische Produkt, das mehr oder weniger zu jeder Gelegenheit gefeiert und dem mit großer Hingabe praktisch überall gehuldigt wurde. Seide war fast genauso tief im kulturellen Gedächtnis verankert wie das Ende des Winters bzw. der Frühlingsanfang, mit dem ja das Leben erwachte und das landwirtschaftliche Schaffen seinen alljährlichen Betrieb wieder aufnehmen konnte. Noch heute gilt das chinesische Neujahrsfest als wichtigster Feiertag (bzw. gut zwei Feierwochen, es zieht sich ein bisschen hin) des Landes.
Nun hatten wir ganz oben nicht erwähnt, dass die Eier des Seidenspinners zwar schon im Herbst befruchtet werden, die kleinen Raupen aber erst nach einer ausgiebigen Winterruhe schlüpfen, und zwar – genau – zum Frühlingsanfang.
Holland?
Jetzt sind wir am Ziel: Seide gilt als wichtiger Teil der chinesischen Identität, das Neujahrsfest markiert den Beginn des Frühlings und die Seidenraupen sind da.
Die chinesische Frühlingsrolle ist ein sehr traditioneller, wichtiger und typischer Bestandteil des Neujahrsfestes und soll in ihrer Form an die der legendären Seidenspinner-Raupe erinnern.
Nicht schlecht für eine kleine, kaum fingerdicke Köstlichkeit …
Typisch ist übrigens auch, dass die Frühlingsrolle eigentlich wirklich nur zum Neujahrsfest hergestellt und mit Freuden verspeist wurde – was sich natürlich längst erledigt hat, denn als Bestandteil eines Dim-Sum, also einer kleinen asiatischen Vorspeisenplatte, oder durch ihre Vergrößerung durch die Holländer bis zur vollwertigen Mahlzeits-Portion gibt es sie heutzutage quasi immer und überall.
Poh pia tod?
Je nachdem, wo man ihr heute begegnet, können sich Zubereitung, Füllung und Garung einer Frühlingsrolle sehr stark unterscheiden: Der nudelartige Teig wird nach Befüllung und Faltung vielerorts frittiert und schnellstmöglich serviert, Varianten, die auf den Wok verzichten und das Röllchen eher dampfgaren, werden oft Glücks- oder auch Sommerrollen genannt (und sind ganz besonders in Vietnam beliebt).
Allen gemein ist ein recht hoher Anteil an Gemüsen (mit nur sehr wenigen oder gar keinen tierischen Zutaten), die zuvor fein gehackt und dann zunächst gewürzt und gedünstet werden, bevor man sie mit dem sehr dünn ausgerollten Teig verheiratet. Manche servieren sie mit Dips und Soßen, andere mit reichlich Salat, manche enthalten zusätzlich noch Glasnudeln, Meeresfrüchte, Huhn, Schwein oder auch Käse.
In Indonesien und auf den Philippinen heißen die Frühlingsrollen „Lumpia“ (niederländische Schreibweise: „Loempia“) und in Singapur „Popiah“.
Die deutlich kleineren thailändischen Frühlingsrollen werden „Poh pia tod“ genannt.