Ein Vulkanausbruch mit Folgen
Dass Vulkanismus und Plattentektonik zu den mächtigsten Kräften zählen, die das Gesicht unserer Erde prägten und prägen, weiß jeder, der entweder in Erdkunde (Kontinentalplatten) oder in Geschichte (Pompeji) einigermaßen gut aufgepasst hat. Und wenn dann auch noch ein guter Physiklehrer am Start war, ist man vielleicht auch einmal der Bedeutung der Sonne begegnet bzw. einem Phänomen, das Dalton-Minimum genannt wird.
Wenn von Zeit zu Zeit ein Vulkan ausbricht oder die Erde bebt, ist das im Grunde nicht weiter erwähnenswert. So ist der Vulkanausbruch im Jahre 79 nach Christus in Pompeji zwar sehr berühmt, allerdings sind die ganz großen Auswirkungen auf den Planeten ausgeblieben (was für die dereinst betroffenen Menschen natürlich kein Trost war). Wenn allerdings fast gleichzeitig und an ganz unterschiedlichen Stellen der Erde gleich mehrere große Ereignisse stattfinden, dann können die Auswirkungen enorm sein.
Eine Situation dieser Dimension hatte sich im 19. Jahrhundert entwickelt. Irgendwann zwischen 1808 und 1810 flog wahrscheinlich in Südamerika ein Vulkan in die Luft und stieß dabei so um die 100 bis 150 Kubikkilometer Staub und Asche aus, die sich in schöner Gleichmäßigkeit wie ein feiner Schleier in der globalen Atmosphäre verteilten. Das alleine war schon nicht von Pappe, aber noch bevor all die Aerosole zu Boden sinken und den Blick auf die Sonne wieder vollständig freigeben konnten, passierte in Indonesien, genauer auf der Insel Sumbawa, noch einmal das Gleiche, allerdings noch ein bisschen schlimmer: Der Tambora explodierte 1815 mit einer solchen Wucht, dass er 160 Kubikkilometer Staubpartikel in den Himmel schoss. Zum Vergleich: Der Vesuv bei Pompeji „schaffte“ gerade einmal 3,3 Kubikkilometer, der berühmte Krakatau 20 und der Mount St. Helens nur 1,2 Kubikkilometer.
Gemeinsam mit der Staublast aus Kolumbien gelangte die Staubdichte in der Atmosphäre an einen Punkt, an dem einfach viel zu wenig Sonnenenergie auf die Erdoberfläche gelangte. Das hatte an sich schon fatale Auswirkungen, weil die Sommer viel zu kalt und zu nass und die Winter viel zu lang waren. Blöderweise befand sich die Sonne noch ganz unabhängig davon und rein zufällig in einer Phase, die in der Astronomie als Dalton-Minimum bezeichnet wird: Die allgemeine Sonnenaktivität hatte zwischen 1790 und 1830 einen historischen Tiefstand erreicht.
Das Jahr ohne Sommer
Auf jeden Fall passierte, was passieren musste: 1816 kam es in Mitteleuropa zu schweren und schwersten Unwettern. Zahlreiche Flüsse (unter anderem der Rhein) traten über die Ufer. In der Schweiz schneite es bis auf 800 Meter Meereshöhe jeden Monat mindestens einmal und am 2. und 30. Juli (!) sogar bis in tiefe Lagen. Durch die wegen der Kälte geringere Schneeschmelze im Vorjahr und die angesammelten zusätzlichen Schneefälle, zum Beispiel in den Alpen, führte die Schneeschmelze örtlich zu katastrophalen Überschwemmungen. Die niedrigen Temperaturen und heftige Niederschläge bewirkten auf den britischen Inseln und in weiten Teilen Kontinentaleuropas, besonders in Deutschland, massive Ernteausfälle.
Der Getreidepreis in Europa erreichte im Folgejahr das Anderthalbfache des Niveaus von 1815, wobei Gebiete unmittelbar nördlich der Alpen am schwersten betroffen waren: Elsass, Deutschschweiz, Baden, Württemberg, Bayern und das österreichische Vorarlberg. Hier erreichte der Getreidepreis im Juni 1817 das Zweieinhalb- bis Dreifache des Niveaus von 1815, an einzelnen abgelegenen Orten wurde gar das Vierfache erreicht.
Hungersnöte brachen aus, gefolgt von Typhus und Pest in verschiedenen Regionen Europas und im östlichen Mittelmeerraum (Typhus ist eine typische Begleiterscheinung von Hungersnöten und grassiert besonders bei feuchten, unhygienischen Bedingungen). Es gibt Schätzungen, dass sich allein in Irland 800.000 Menschen mit Typhus infizierten und über 44.000 Menschen an Krankheit und Hunger starben.
Und weil das eine zum anderen gehört: Der weltberühmte „Cannstatter Wasen“, der am 28. September eines jeden Jahres in Stuttgart eröffnet wird, ist eine direkte Folge der furchtbaren vorangegangenen Jahre. Er fand 1818 zum ersten Mal statt, nachdem sich die Natur wieder beruhigt und Ernten und Erträge sich wieder erholt hatten. Bereits im ersten Jahr strömten 30.000 Menschen zu dem Erntedankfest, was für die damalige Zeit eine gewaltige Menge war. Die Bürger waren wirklich dankbar, glücklich, satt und wohl auch ziemlich erleichtert. Heute kommen im Jahr so um die drei bis vier Millionen Leute.
Gott sei Dank
Natürlich erzählen wir Ihnen das alles hier nicht ohne Grund, schließlich geht es in diesem Text um das Erntedankfest. Gerade die damals aktuellen Ereignisse machten den Menschen im 19. Jahrhundert aber noch einmal deutlich, wie abhängig sie von den „Launen der Natur“ waren. Ein Vulkan, der sich Tausende von Kilometern entfernt befindet, kann Landwirten einen gehörigen Strich durch die Rechnung machen und die Folgen für die Bevölkerung sind dann enorm. Natürlich ahnte zu dieser Zeit niemand, was eigentlich genau wo passiert war, aber die Auswirkungen bekamen alle unmittelbar mit. Ein Grund mehr, zum Ende der Saison hin einmal kurz innezuhalten, Mutter Natur Dank und Respekt zu zollen und sich vorsorglich auch noch des unbedingt notwendigen göttlichen Beistands für das nächste Jahr zu versichern.
Obwohl das Erntedankfest kein klassischer kirchlicher Feiertag ist, spielen die Kirchen dabei eine gewichtige Rolle – nicht zuletzt, weil Gaben und Ernten (auch Honig, Früchte, Mehl und Wein) prächtig herausgeputzt am Sonntag an oder um Michaelis (also um den 29. September herum, siehe Cannstatter Wasen) in den Kirchen oder bei Prozessionen zur Schau gestellt wurden und werden. Interessant ist dabei unter anderem der Brauch, eine sogenannte „Erntekrone“ zu gestalten, die man dann aber keinem Menschen (oder Heiligen) auf den Kopf setzt, sondern die für sich steht und sozusagen die Herrschaft durch die Natur symbolisiert und respektiert: Ohne Natur geht – auch beim größten Bemühen der Menschen – gar nichts. In Cannstatt wird übrigens kein Getreide zusammengeflochten, sondern es gibt die sogenannte „Fruchtsäule“ aus Holz, die auf einem stolze 26 Meter hohen Pfahl ausgestellt wird: Wirklich jeder soll sie sehen können.
Ehre, wem Ehre gebührt
Weil Ackerbau und Viehzucht keine Errungenschaften des christlichen Glaubens und der mit ihm verbundenen Kulturen sind, gab es dem Erntedankfest ähnliche Feierlichkeiten schon in vorchristlicher Zeit, zum Beispiel in Nordeuropa, Israel, Griechenland und im Römischen Reich, um mal auf unserer Seite des Äquators zu bleiben. Immer wurde bei der Gelegenheit auch das Göttliche angebetet, aber wenn man ganz ehrlich ist, dann hofften die Leute wohl auf etwas überirdischen Beistand bei etwas so Irdischem wie Wetter, Boden, Sonne und allgemeiner Fruchtbarkeit. Andere Kulturen mit anderem Klima, anderem Glauben und anderen Jahreszeiten feierten dann, wenn es in ihren Ernte- und Jahreszyklus passte. Allen gemein sind aber die Dankbarkeit, die Ehrfurcht und die Demut gegenüber der Natur, ohne die ein Überleben in der winterlichen Zeit ohne Wachsen und Werden unmöglich wäre. Jedenfalls nicht, bevor Kühltruhen und globale Lieferketten erfunden wurden.
Gut so
Übrigens sieht die römisch-katholische Ausgestaltung des Abendmahls zu Erntedank, also am ersten Sonntag im Oktober, den „Dank für die Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit“ vor. Eine wirklich gute Idee, denn hier wird nicht nur Göttern und Naturgewalten, sondern auch endlich einmal den Bauern und Landwirten ausdrücklich für ihre harte Arbeit gedankt. Das ist wohl das Mindeste, was wir ihnen schuldig sind …