Was passiert beim Dry Aging?

Fleischreifung

Einerseits kommt mit der Schlachtung zwar die Sauerstoffversorgung des Gewebes zum Stillstand, andererseits bedeutet das aber nicht, dass dadurch auch der Stoffwechsel sofort seine Arbeit einstellt. Die Enzymtätigkeit und der Zuckerstoffwechsel laufen noch eine ganze Zeit lang weiter, wenn auch jetzt ohne Sauerstoff (anaerober Stoffwechsel). Ergebnis: Die Muskeln ziehen sich sehr stark zusammen.

Das natürlicherweise in Muskeln vorkommende Glykogen (vereinfacht gesagt: Zucker) wird mit der Zeit zu Lactat (vereinfacht gesagt: Milchsäure) abgebaut, wodurch der pH-Wert von um die 8 (basisch) auf deutlich unter 6 (sauer) absinkt. Erst in diesem jetzt sauren Klima können bestimmte Enzyme wie Cathepsin und Calpain ihre Arbeit aufnehmen. Sie bewirken die allmähliche Auflösung der Muskelfasern bzw. der Proteinketten, wodurch sich das Fleisch entspannt, wieder zart wird und allmählich auch das gebundene Wasser freigibt, was das Stück immer saftiger macht. Dieser Prozess nimmt mindestens zwei bis höchstens vier Wochen in Anspruch.

Nach dieser Zeit wird das Fleisch nicht mehr zarter, sondern baut nur noch mehr Aromen aus. Allerdings ist eine Überschreitung von vier Wochen Reifedauer nur beim Dry Aging möglich! Beutelgereifte Ware würde schlichtweg verderben.

Was ist denn gutes, geeignetes Fleisch?

Im Grunde ist die Antwort ganz leicht und auch diese hat mit Fett zu tun. Da Fett ein sehr wichtiger Geschmacks- und Feuchtigkeitsträger ist und unter Oxydation erst so richtig Aromen freisetzt,

  • sollte sehr gut marmoriertes Fleisch zum Einsatz kommen – am besten mit Knochen.
  • sollten Stücke ausgewählt werden, die ohnehin schon reichlich mit Fett durchzogen und gut marmoriert sind: Ribeye/Entrecôte, Rumpsteak, T Bone- oder Porterhouse Steaks.
  • sollten Rassen mit besonders stark ausgebildeten Fetteinlagerungen und kräftigem Geschmack eingekauft werden: Wagyu, Simmentaler, Angus, Hereford. Beim Schwein wäre das Duke of Berkshire die beste Wahl.
  • sollte möglichst frisches Fleisch zum Einsatz kommen. Es hat kaum Sinn, bereits 14 Tage nassgereiftes Fleisch in die Trockenkammer zu hängen - das geht geschmacklich garantiert daneben, weil durch die Nassreifung (die mit einem viel höheren Anteil an Milchsäuren arbeitet) ein viel zu saurer Grundgeschmack entsteht, der das feine und elegante Aroma von trocken gereiftem Fleisch überdeckt oder gar ruiniert.
  • Wer Wild trockenreifen möchte, steht vor dem Dilemma, dass dieses Fleisch meistens recht mager ist. Keine Bange: beim Wild liegt der meiste Geschmack im Muskel, sodass man auch nach einer relativ kurzen Reifephase reichlich Gaumenfreuden erwarten darf.

Der Moment der Perfektion

Drei, höchstens vier Wochen und die Arbeit der zart machenden Enzyme ist abgeschlossen. Nach diesem Zeitpunkt wird kein Fleisch mehr weicher oder zarter. Und wenn bestimmte Affineurs die Reifedauer über diesen Punkt hinauszögern (teilweise 5 Monate und mehr), dann dient das nicht mehr der Konsistenz des Fleisches, sondern ausschließlich nur noch seinem Geschmack.

Zwischen 28 und 42 oder 45 Tagen wird es dann nämlich mit einem kräftigen Fleischaroma, mit Anleihen an Blauschimmelkäse, Cheddar und Hefe noch mal interessanter und vor allem: Das Fleisch wird auf einmal wieder viel saftiger (das liegt daran, dass die Milchsäure dem Fleisch eine besonders hohe Wasserbindungsfähigkeit verleiht – je länger sie wirkt, umso stärker der Effekt).

Und genau hier kann man gerne das Streiten anfangen: Sehr lange gereiftes Fleisch ist nämlich keineswegs jedermanns oder jeder Frau Sache. Aber wie gesagt: Die Qualität muss unbestreitbar sein. Alles andere ist eine Frage des persönlichen Geschmacks.

Mythos Austrocknung

Man hört und liest es immer wieder: Beim Dry Aging gehen 30 % an Wasser verloren und das Fleisch schrumpft. Das ist nicht richtig! Es stimmt zwar, dass beim Dry Aging das Gesamtgewicht sinkt, aber das hat einen vollkommen anderen Grund: Stellen Sie sich einen sehr großen, frischen Cut vor, zum Beispiel einen halben Rinderrücken mit Rippen, Wirbelsäule, Muskeln, Bindegewebe und Fett. Sagen wir, das Gewicht wäre 100 (nicht Kilo, einfach nur 100 als Wert). Jetzt stellen Sie sich weiterhin vor, der Metzger zerlegt dieses Stück nach allen Regeln der Kunst in einzelne Steaks oder auch Cuts.

Was meinen Sie, wie viel er da absägen oder rausschneiden muss, weil manche Bestandteile einfach nicht in die Pfanne oder auf den Grill gehören? Antwort: mindestens 25 %!

Nichts anderes passiert beim Dry Aging, nur eben andersherum: Hier kommt das ganze Stück (100) in den Dry Aging Reifeschrank, verliert über den Reifeprozess hinweg lächerliche 4, höchstens 5 % an Flüssigkeit und wird im Anschluss zerlegt (25 %). Zusätzlich muss noch die Reifekruste abgelöst werden, was mit ca. einem Zentimeter Tiefe zu „bezahlen“ ist – gemessen an der Größe des Stücks also relativ wenig, sagen wir, noch mal 3 %.

Also: 25 % des Verlustes sind nicht im Fleisch, sondern durch einen ordnungsgemäßen Zuschnitt entstanden. Gemessen an frischem Fleisch beträgt der Verlust nicht mehr als (wirklich allerhöchstens) 8 %!