Sie sind überall
Das kann ja was werden, wenn wir uns dem Apfel nicht nur als Obst, Saft, Mus, Kompott, Schnaps oder Wein widmen wollen, sondern uns sozusagen an das große Ganze wagen. Schließlich gibt es wohl kein anderes Obst oder Lebensmittel, um das sich dermaßen viele Geschichten, Erzählungen, Legenden und Entdeckungen ranken wie um den Apfel.
Legenden und Leidenschaft
Die griechische Mythologie zum Beispiel: Der Legende nach hatte die Göttin Eris einen Apfel mit der Aufschrift „Für die Schönste“ in einen Kreis der anderen Gättinen Hera, Athene und Aphrodite geworfen, und natürlich wollte jede diesen Apfel haben. Es kam, wie es kommen musste und Zeus, der sich weigerte den Streit zu schlichten, befahl einem gewissen Paris, die Entscheidung zu treffen. Nach einigem Hin und Her entschied Paris sich für Aphrodite, da diese Ihm die Liebe der schönen Helena versprach, die allerdings leider schon mit Menelaos, dem Chef der Spartaner, verheiratet war – Ärgernis vorprogrammiert. Am Ende der Geschichte kam es zum Trojanischen Krieg mit Sparta, der ja bekanntlich ziemlich dramatisch endete. Alles wegen eines Apfels, der ins kulturelle Gedächtnis als „Zankapfel“ eingegangen ist.
Im Märchen ärgert sich Frau Holle über die Faulheit eines Mädchens, das sich weigert, reife Äpfel vom Baum zu pflücken, und Schneewittchen fällt fast einem heimtückischen Attentat zum Opfer (weil sie „die Schönste im ganzen Land“ war).
In der nordischen Sage verschenkte die Göttin Idun goldene Äpfel an das Göttergeschlecht der Asen, die dadurch ewige Jugend erhielten, in der walisischen Kultur war es Merlin, der kriegsmüde zur Insel der Apfelbäume reiste, und Martin Luther wird das Zitat zugeschrieben: „Wenn ich wüsste, dass morgen der Jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“
Und dann ist da natürlich noch die Sache mit dem Apfel, dem Paradies, Adam, Eva und dem Sündenfall, wobei man eingestehen muss, dass es hier im Kern gar nicht um einen Apfel ging, sondern darum, dass wohl ein früher Übersetzer seine Vokabeln nicht richtig gelernt hatte, beim lateinischen „mallus“, was „böse, schlecht, falsch“ bedeutet, einfach ein „L“ wegließ und so alle Schuld an der kommenden Misere dem armen Saftobst, lateinisch „malus“, in die Schuhe schob.
Wenn’s besonders ist
Die Liste könnte man praktisch ewig fortschreiben, wir beenden unseren kleinen Ausflug in die Kulturgeschichte aber jetzt mit dem unerreichten Isaac Newton, der – aber auch das ist nur eine Erzählung und muss nicht unbedingt stimmen – einen Apfel vom Baum fallen sah und erkannte, dass die hierfür erforderliche „Erdanziehung“, also die Gravitation, denselben Gesetzen folgte wie die Himmelsmechanik, die ja immerhin jede Bewegung sämtlicher astronomischer Objekte beschreibt.
Und sehen Sie: Sir Isaac hätte ja eigentlich genauso gut eine fallende Birne beobachten können oder ein bisschen Vogelkot oder einen aus dem Fenster fallenden Blumentopf, er fand aber wohl ein schon zu seiner Zeit dermaßen symbolisch aufgeladenes Objekt wie den Apfel seiner geradezu atemberaubenden Erkenntnis am angemessensten.
Bleiben wir kurz bei diesem Gedanken: Eine Zankpflaume gibt es ebenso wenig wie eine Reichsbirne, eine vergiftete Kirsche, eine Nuss der Erkenntnis oder den Quittenbaum des Lebens. Es ist immer der Apfel, der unsere Fantasie beflügelt und der – nicht nur in den Erzählungen – quasi omnipräsent ist. Oder fallen Oliven etwa nicht weit vom Stamm?
Das Menschenobst
Warum ist das eigentlich so? Was macht den Apfel zu dieser allseits beliebten Wunderkugel? Und was hat das alles mit einem gewissen Otto Schmitz-Hübsch zu tun?
Äpfel gehören zur Familie der Rosengewächse (Rosaceae), die unsere Fauna bereits seit dem Eozän bereichern, also seit dem Erdzeitalter vor 50 Millionen Jahren.
Sie hatten also Zeit genug, um sich in aller Ruhe zum sozusagen perfekten Obst zu entwickeln, und das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen: Sie besitzen einen ausgesprochen hohen Wasseranteil, was sie zu DEM Saftobst überhaupt macht. Für einen Liter Apfelsaft braucht es nur 1,3 Kilogramm Äpfel, was anderes besonders saftiges Obst ziemlich alt aussehen lässt: Auch die Traube ist kaum besser und bei Orangen ist einfach zu viel Schale im Spiel. Jedes Jahr werden allein in Deutschland um die eine Milliarde Liter Apfelsaft erzeugt.
Außerdem sind Äpfel reich an Vitaminen und Mineralstoffen, lassen sich augenblicklich aufessen (weswegen sie auch zum Tafelobst zählen: vom Baum auf den Tisch) oder weiterverwerten (als Streuobst bzw. Fallobst). Dann sind sie – je nach Sorte und Züchtung natürlich – besonders lagerfähig, relativ leicht zu ernten (vor allem seit den letzten 120 Jahren) und dann auch noch ausgesprochen lang im Jahr verfügbar. Manche Sorten sind im Frühsommer erntereif, andere bis in den November hinein und wieder andere lassen sich bequem bis zum Juni des Folgejahres einlagern.
Frühstart
Kein Wunder, dass unsere Vorfahren ganz vernarrt in die Früchte waren und sich mit Hingabe an ihre Kultivierung und Kommerzialisierung machten, denn durch das zuverlässige Reifen zu mehr oder weniger immer demselben Zeitpunkt im Jahr waren sie durchaus auch schon zur Nutzung geeignet, als die Menschen noch als Jäger und Sammler unterwegs waren.
Der Äpfel ursprüngliche Heimat liegt wohl in Asien. Am Rande des kasachischen Tian-Shan-Gebirges wurden schon vor 6.000 Jahren Früchte gehandelt, die unserem heutigen Kulturapfel glichen. Und die größte Stadt in Kasachstan, Almaty, hieß früher „Alma-Ata“, was auf Kasachisch „Großvater der Äpfel“ bedeutet.
Allerdings reden wir hier zwar von Kulturäpfeln, das bedeutet aber nicht, dass massiv auf die gezielte Züchtung einzelner Apfelsorten gesetzt wurde. Die Bäume waren bis zu 15 Meter hoch und wurden bis zu 100 Jahre alt. Weil ein „normaler“ Apfel aber niemals sortenreine Samen enthält, können aus fünf Samen desselben Apfels fünf vollkommen unterschiedliche Äpfel tragende Bäume werden. Damit war und ist es heute noch unmöglich, Äpfel gezielt aus ihren Samen zu ziehen.
(Außerdem sind die Samen auch ein bisschen anspruchsvoll: Zum Keimen benötigen sie unbedingt eine gewisse vorherige Gärung, die typischerweise durch eine Darmpassage im Körper eines Lebewesens entsteht, das den Apfel mit Stumpf und Stiel verspeist und die Überreste später dann an anderer Stelle wieder ausscheidet.)
Kann vorkommen
Ein schöner Apfelbaum im Garten, am Haus oder auf einer nahe gelegenen Wiese war also zwar eine feine Sache, allerdings war und blieb man sehr lange auf den Zufall angewiesen, dass diese Sorte gut war und der Baum möglichst alt wurde, weil er nicht mal so eben wieder neu gezogen werden konnte. Irgendwann kam man dann allerdings auf die Idee, den jungen Spross (Edelreis) eines alten Baumes mit dem jungen Stamm einer Trägerpflanze (Unterlage) zu verheiraten, indem man immer wieder das Alte auf das Junge pfropfte und dem entsprechenden Baum so gesehen ewiges Leben schenkte (… sehen Sie?!).
Wahrscheinlich brachten die Römer den Kulturapfel mit dieser cleveren Methode nach Mitteleuropa, wo man ihn seit dem 6. Jahrhundert anbaut. Die erste schriftlich verbürgte Apfelsorte in Deutschland, der „Borsdorfer Apfel“, datiert auf das Jahr 1170 und wurde von Zisterzienser-Mönchen erwähnt.
Schluss mit dem Kleinkram
Seit dem 16. Jahrhundert wurde er dann zu einem Wirtschaftsgut, was aber immer noch nicht bedeutete, dass Tausende Bäume auf großen Flächen duldsam in Reih und Glied zuerst auf die Bienen und dann auf die Pflücker warteten. Wir reden hier immer noch weitestgehend von Fallobst auf Streuobstwiesen, was auch ganz logisch ist, denn noch bis in das mittlere 20. Jahrhundert hinein war die Ernährungslage der europäischen Bevölkerung auf Selbst- und Nahversorgung ausgelegt; man war mit anderen Worten noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, Äpfel zentral zu erzeugen und dann in alle Himmelsrichtungen zu verkaufen. Man verwertete, was man eben selber so hatte.
Auch darum gibt es in Deutschland bis heute noch eine derartige Vielzahl an Sorten: Hatte man einen schönen Baum, dann zog man diesen einen immer wieder nach, sodass weder die Anzahl der Bäume noch die Erntemenge sich stark veränderten. Und da eine gute neue Sorte ja immer auch mehr oder weniger zufällig entstand, gab es wahrscheinlich so viele Sorten, wie es Obstwiesen gab. Wenn Sie sich für Zahlen interessieren: Allein in Preußen existierten im Jahr 1880 um die 2.300 Sorten und heute sind bundesweit immerhin noch etwa 1.500 bekannt.
Irgendwann jedoch änderten sich die Zeiten und alle Welt verlangte nach guten, schönen, schmackhaften Äpfeln, die eben keine Sturzverletzungen aufwiesen, nicht bereits angefault waren und die sich gut lagern ließen. Das läutete in der Folge das Ende der kunterbunten – und eben auch entsprechend anfälligen – Ernten von den einfachen Streuobstwiesen ein.
Weniger ist mehr
Damit kommen wir endlich zu unserem bereits erwähnten Otto Schmitz-Hübsch, der immerhin als Erfinder des „Erwerbsobstbaus“ gilt, zumindest in Deutschland.
Bis weit ins 19. Jahrhundert beschränkte sich der Obstanbau auf Streuobstwiesen, wie wir ja mittlerweile wissen, auf Wegrandpflanzungen (Alleen) und Obstgärten, die lediglich dem Eigenbedarf oder dem Nebenerwerb dienten. 1896 gründete Otto Schmitz-Hübsch aber das erste reine Obstgut zum großflächigen, rationellen und kommerziellen Apfel- und Birnenanbau.
Und mit dieser Pioniertat ging eine entscheidende Neuerung einher, die den Obstbau in Deutschland und später dann auf der ganzen Welt verändern sollte: Schmitz-Hübsch legte seine Plantagen nicht mit herkömmlichen hochstämmigen Obstbäumen an, sondern begann als Erster, schwach und schön niedrig wachsende Apfel- und Birnbäume systematisch zu kultivieren, was sich als enorm vorteilhaft erwies. Diese Bäume brachten frühere und höhere Erträge mit besserer Qualität und waren darüber hinaus auch sehr viel leichter zu ernten und zu pflegen, weil keine Leitern oder anderes Utensil mehr notwendig waren. Die Unterlagen, auf denen Schmitz-Hübsch seine Bäume veredelte, wurden später als „M8“ und „M9“ klassifiziert – letztere ist heute weltweit die mit Abstand am meisten verbreitete Apfelunterlage.
Der Durchbruch
Anfang der 1930er-Jahre gelang Herrn Schmitz-Hübsch dann noch eine bahnbrechende Weiterentwicklung seiner auf M9 gezogenen Niederstammbäume: Mit dem sogenannten „Spindelbusch“ führte er eine besonders kleinwüchsige und schlanke Baumform ein, die hinsichtlich Bearbeitung und Fruchtbarkeit allen anderen Formen um Längen voraus war und ist. Zusammen mit der M9-Unterlage hat sich die „Spindel“ seit 1950 weltweit durchgesetzt, etwa neun von zehn Apfelbäumen in Europa sind Spindelbüsche.
Als Obstzüchter wurde Otto Schmitz-Hübsch darüber hinaus auch durch den „Roten Boskoop“ bekannt. 1923 entdeckte und veredelte er eine (!) rötlich gefärbte Mutation der Sorte Boskoop, die er 1939 als „Roter Boskoop Schmitz-Hübsch“ in den Handel brachte. Sie zählt bis heute zu den meistangebauten Apfelsorten.
Noch weniger ist kaum noch was
Von den etwa 1.500 Sorten, die wir in Deutschland kennen, sind nur etwa 30 bis allerhöchstens 60 für den Handel und im Verkauf interessant (also als Bäumchen, nicht als Äpfelchen). Und wenn man es noch weiter runterbricht, dann reden wir für ganz Europa von gerade einmal drei (!) Sorten, die fast 70 % des Gesamtangebots am Apfelmarkt ausmachen: Golden Delicious, Jonagold und Red Delicious. Weitere wirtschaftlich bedeutende Sorten wären dann noch Gala, Granny Smith, Elstar, Cox Orange und Schöner aus Boskoop. Besonders groß ist diese Auswahl – gemessen an den sozusagen allgemein zur Verfügung stehenden Möglichkeiten – also ganz und gar nicht …