Good old Days
Erinnern Sie sich noch an die Zeit vor ungefähr 25 Jahren, so um 1995 herum? Wo waren Sie, was haben Sie gemacht, in welcher Lebenssituation haben Sie sich befunden? Was war Ihr Lieblingsessen, Ihr Lieblingsgetränk, Ihre Lieblingsmusik? Fühlt sich der zeitliche Abstand bis heute lang für Sie an oder fragen Sie sich, wo all die Jahre so schnell geblieben sind? Immerhin sprechen wir hier von einem Vierteljahrhundert und das ist schon eine ganze Menge Zeit, in der sehr viel passiert ist oder zumindest passiert sein kann.
Schattendasein
Nein, das ist nicht der Beginn einer psychotherapeutischen Sitzung, sondern einer der Gründe dafür, warum ein echter, also alter „Aceto balsamico tradizionale“ heutzutage so teuer ist. Vor 25 Jahren nämlich war der heutige Nachfrageboom nach diesem Balsamico-Essig überhaupt noch nicht absehbar, der Edelessig fristete damals ein beschauliches, wenn auch äußerst elitäres Dasein vor allem in der italienischen und in der Sterneküche.
Und niemand kam ob der recht überschaubaren Nachfrage damals auf die Idee, den Super-Sud rechtzeitig in größeren, wenn nicht großen Mengen anzulegen. Im Ergebnis leiden wir so gesehen noch heute unter dem produktionstechnischen Flaschenhals, der vor sehr langer Zeit entstand.
Darüber hinaus begnügte sich Otto Normalverbraucher – wenn überhaupt – mit seinem „Balsamico“, den er voller Hingabe und doch irgendwie herzlos über ein paar Tomatenscheiben, geschnittenen Mozzarella und etwas Basilikum kippte oder ihn mit etwas Olivenöl zur italienischen Vinaigrette aufschlug. Von dem, was damals in den Provinzen Modena und Reggio Emilia vor sich ging, hatte man hier keine Ahnung.
Balsamico kann alles Mögliche sein
Und man musste auch nicht: Der Begriff „balsamico“ ist keineswegs geschützt, sodass in den meisten Fällen zwar ein milder, dunkler und einigermaßen aromatischer Essig hergestellt und angeboten wurde – der mit dem Original allerdings so gut wie gar nichts zu tun hatte (und hat).
Selbst der wohl bekannteste Balsamico, der „Aceto balsamico di Modena“, war und ist im Grunde nichts anderes als eine Mischung aus ganz gewöhnlichem Weinessig und eingedicktem Traubenmost, der in vielen Fällen mit Zuckercouleur braun gefärbt wird – bei besseren Sorten wird eine (sehr) kleine Menge echter „Aceto balsamico tradizionale“ zugegeben. Und das, obwohl der Begriff Aceto balsamico di Modena sogar eine geschützte geografische Angabe (g. g. A.) ist, was die Verwechslungsgefahr mit einem traditionellen Balsamico auch nicht gerade senkt.
Was für ein Aufwand …
Der echte Balsamico nämlich trägt nur ein einziges weiteres Wort im Namen, das es allerdings wirklich in sich hat: tradizionale – und hier wird es spannend. Lassen wir zunächst einmal die regionale Verortung beiseite (Modena und Emilia sind ohnehin Nachbarn im südlichen Teil Norditaliens) und befassen uns damit, wie ein „Tradizionale“ hergestellt wird, dann wird das mit den hohen Preisen und den 25 Jahren schnell deutlich klarer.
Zunächst wird der Most von spät gelesenen weißen Trebbiano- oder Lambrusco-Trauben durch Kochen eingedickt, sodass nur noch ca. 30 bis 70 % der Ursprungsmenge übrig bleiben. Hierbei findet noch keine alkoholische Gärung statt. Der Sirup wird gefiltert, bevor ihm ein gewisser Anteil von bereits mindestens 10 Jahre altem Balsam-Essig sowie etwas frischer Wein zur Vergärung zugesetzt werden.
Anschließend wird die Mischung jeweils mehrere Monate in verschiedenen Holzfässern gelagert. Dieser Prozess dauert insgesamt viele Jahre; der Essig durchläuft seine Reifung und Lagerung nacheinander in Fässern, die aus sehr unterschiedlichem Holz gebaut sind: Zuerst ist Eiche dran, dann folgen Edelkastanien-, Kirsch-, Eschen- und schließlich Maulbeerbaumfässer.
Die Lagerung findet – vergleichsweise untypisch – gerne auf Dachböden statt, wo es im Sommer sehr warm (weitere Verdunstung und Eindickung) und im Winter empfindlich kalt werden kann (Ausfällung von Trübstoffen). Je älter der Essig wird, desto konzentrierter und dickflüssiger wird er logischerweise auch. Auf jeden Fall bleibt wegen dieser Rezirkulierung und der jahrelangen Eindickung am Ende nur noch eine relativ kleine Menge übrig – und allein das hat schon seinen Preis.
Alter verpflichtet
Nun muss man zusätzlich wissen, dass ein echter, zertifizierter Aceto balsamico tradizionale ohnehin erst in den Handel gelangen darf, wenn er eine Reifezeit von mindestens 12 Jahren hinter sich gebracht hat und, wie beim Whisky, hiermit als gerade mal so genießbar gilt. Viel besser ist der 18-Jährige und natürlich alles, was 25 oder mehr Jahre Fassreifung auf dem Buckel hat.
Dieser 25-jährige Balsamico trägt zusätzlich zur Herstellung und Provenienz (zum Beispiel Aceto balsamico tradizionale di Modena) noch die Wörtchen „extra vecchio“, was ihn nicht nur in den kulinarischen Adelsstand erhebt, sondern auch in erstaunliche preisliche Dimensionen katapultiert: Während ein 12-jähriger „Tradizionale“ für um die 500 Euro pro Liter verkauft wird, knackt ein „Tradizionale extra vecchio“ locker die 1.000-Euro-Marke. Logisch, dass die entsprechenden Verkaufseinheiten ziemlich klein sind – 50- oder 100-Milliliter-Fläschchen sind hier eher üblich als eine Ausnahme.
Auf einen Blick
Ganz gut lassen sich die drei Qualitätsstufen durch das jeweilige Etikett unterscheiden: Beim 12-Jährigen ist es rot, beim 18-Jährigen silbern und beim 25-Jährigen – wie könnte es anders sein – goldfarben.
Unnötig zu erwähnen, dass ein solch hochwertiges Produkt nicht nur wegen seines Preises, sondern auch wegen seiner enormen Aromen nur sehr zurückhaltend eingesetzt wird. Was dann aber mit Ihren Geschmacksnerven passiert, wird Sie auf jeden Fall überraschen (um nicht „umhauen“ zu sagen) – und wahrscheinlich werden Sie Ihren Balsamico in Zukunft mit ganz anderem Blick auf die Details einkaufen.
Das Original: Aceto balsamico di Modena im Schnelldurchlauf
- Der Säuregehalt eines Aceto balsamico di Modena muss mindestens 6 % betragen, diese Säure darf ausschließlich aus Wein und nicht aus anderen pflanzlichen Rohstoffen stammen.
- Als Zusatz ist ausschließlich Karamell zulässig, um die Farbe zu stabilisieren.
- Die oben beschriebene Herstellung darf ausschließlich in den Provinzen Modena oder Reggio Emilia erfolgen. Die Abfüllung dagegen kann auch anderswo geschehen.
- Vorgeschrieben ist eine mindestens 60 Tage währende Reifezeit.
- Aceto balsamico tradizionale di Modena darf nur aus eingedicktem Traubensaft hergestellt werden. Die Trauben hierfür dürfen nur aus den beiden genannten Regionen stammen. Er darf frühestens nach 12-jähriger Fassreife abgefüllt und verkauft werden.
- Aceto balsamico tradizionale di Modena extra vecchio muss mindestens 25 Jahre Fassreife hinter sich gebracht haben.