Das Maß aller Dinge
Handelshof: Herr Kabakci, Frische, Qualität und Vielfalt bringen ja auch jeden Tag jede Menge Stress und Verantwortung mit sich. Was ist für Sie das Schönste an Ihrem Beruf?
Refik Kabakci: Ach, da gibt es dieses eine Ding eigentlich nicht. Irgendwie ist das immer eine gesunde Mischung aus Spannung, Entspannung, Teamwork, guten Umsätzen und zufriedenen Kunden. Aber ich kann das vielleicht so sagen: Wenn abends alles wieder gut verräumt ist, das Licht ausgeht, Ruhe einkehrt und es immer noch gut riecht – das ist aber meine ganz persönliche Version …
HH: Eine anstrengende Sache, oder? Ich meine, Obst- und Gemüsehandel ist doch immer auch eine körperlich fordernde Angelegenheit.
R. K.: Na ja, die Kollegen aus anderen Abteilungen hauen auch ganz schön rein. Aber es stimmt: Wir fassen die Ware vergleichsweise häufig an und müssen auch immer ziemlich viel nachlegen. Frisch heißt immer auch: schnell weg.
HH: Lassen Sie uns doch mal über die Umschlagsmengen reden – Fleisch und Fisch sprechen da gerne von Tonnen …
R. K.: Stimmt, aber wir tun das nicht unbedingt.
HH: Warum nicht?
R. K.: Weil das reine Gewicht bei unseren Produkten irgendwie nicht besonders viel aussagt.
HH: Wie meinen Sie das?
R. K.: Ein Kilo Rindersteak ist ein Kilo Fleisch. Ein Kilo Lachsfilet ist ein Kilo Fisch. Kann man ganz gut zählen, wiegen und messen – und lässt auch in einem gewissen Rahmen Rückschlüsse auf den Verkaufswert der Ware zu. Bei uns ist das anders.
HH: Weil?
R. K.: Weil Gewicht bei uns nicht alles ist – und vor allem nicht unbedingt Rückschlüsse auf den Warenwert zulässt.
HH: Aber Sie setzen doch Tausende Tonnen Ware um!
R. K.: Das stimmt, ist aber zweitrangig. Nehmen wir ein Beispiel: Safran gilt als das teuerste Gewürz der Welt. Ein Gramm in Spitzenqualität kann bis zu 20 € kosten. Das heißt, dass ein Kilogramm der Ware bis an die 20.000 € kosten kann. Nicht umsonst nennt man den Safran auch „rotes Gold“. Was kostet im Vergleich dazu ein Kilo Kartoffeln?
HH: Ach so! Okay. Verstanden. Der Warenwert ist bedeutender als das Gewicht.
R. K.: So ist es. Gilt natürlich nicht für jedes Produkt, aber das erklärt, wie unsinnig es ist, gute Geschäfte mit viel Gewicht gleichzusetzen. Wenn ich im Jahr 80.000 Netze Zitronen verkaufe, dann sind das 120 Tonnen. Klingt nicht nach viel, ist es aber. Vor allem, wenn man sieht, dass wir nur auf 30 Tonnen Äpfel kommen. Aber so könnte man jetzt ewig weitermachen …
HH: Was ist denn Ihre Maßeinheit, wenn es so was dann überhaupt gibt?
R. K.: Also im Tagesgeschäft im einzelnen Markt sind das ganz klar die Paletten.
HH: Europaletten?
R. K.: Ja, hoch gepackte Europaletten.
HH: Dann los!
R. K.: Moment! Auch hier ist das so eine Sache. Eine Palette mit Kartoffeln oder Zwiebeln ist voller reiner Mengenware, die blitzschnell abverkauft sein kann. Eine Palette mit Flugmangos dagegen ist wieder ganz anders, weil das recht teure Luxusqualität bedeutet.
HH: Ich merke allmählich, was das Sprichwort bedeutet, dass man Äpfel nicht mit Birnen vergleichen kann.
R. K. (schmunzelt): Ja, so könnte man das sehen. Über einen Kamm lässt sich bei uns leider nur sehr bedingt scheren.
HH: Dann gehen wir trotzdem über Paletten. Ein großer Unterschied scheint mir zu sein, dass es gut lagerbare und sehr empfindliche, weniger haltbare Ware gibt. Geben Sie uns doch mal einen Einblick in einen ganz normalen Tag im Markt.
R. K.: Morgens wird geliefert, kontrolliert und die Auslage bestückt. Also noch vor Öffnung. Wir sind alle Frühaufsteher …
HH: Und wie viel …
R. K.: Jaja – kommt! Also: Mit allem Drum und Dran drehen wir pro Markt zwischen 35 und 50 Paletten.
HH: Drehen?
R. K.: In Empfang nehmen, einlagern, in die Auslage geben, verkaufen.
HH: Und wie lange dauert so eine „Drehung“?
R. K.: Normalerweise einen Tag.
HH: WAS? Sie verkaufen 40 hoch gepackte Paletten Frischware pro Markt pro TAG?
R. K.: Ja. Schon. Und wir achten natürlich auch sehr genau darauf, dass immer frische Ware in der Auslage ist. Wenn sich heute gerade die Tomaten oder Pfifferlinge besonders gut verkaufen, dann drehen wir diese Ware auch schon mal deutlich schneller.
HH: Bilden sich da morgens nicht Lkw-Schlangen bei der Zulieferung?
R. K.: Schlangen lieber nicht, aber da kann es ganz schön zur Sache gehen. So um die mindestens 200 Paletten pro Haus pro Woche sind schon eine ganze Menge. Aber wir sind ja fleißig und mögen es, wenn der Laden brummt …
HH: Jetzt verstehe ich auch viel besser, was Sie am Anfang gesagt haben.
R. K.: Was habe ich denn da gesagt?
HH: Dass Sie es mögen, wenn abends sozusagen die „Schlacht geschlagen“ ist und alles mal zur Ruhe kommt.
R. K.: Haha – ja, stimmt wirklich.
HH: Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass es kaum noch – wenn überhaupt – irgendwelche neuen Produktkracher, Innovationen, bislang unbekannte Ware und so weiter gibt.
R. K.: Ja, das passiert wirklich selten. In bestimmten Nischen schon, aber nicht – oder so gut wie nicht – für den Großverbrauch. Zumindest, was die Produkte selbst angeht.
HH: Das klingt, als wäre da doch noch was im Gange …
R. K.: Ja, da ist sogar richtig was im Gange. Irre, was da los ist. Geradezu unglaublich.
HH: Sie machen es gerne spannend, was?
R. K.: Ach Quatsch, aber der Aufbau einer gewissen Neugier gehört ja immer auch ein bisschen zum Geschäft. (Zwinkert)
HH: Gut, ich bin neugierig genug und bereit für Ihren Knaller des Jahres.
R. K.: Das Zauberwort heißt „ultrafrische Convenient-Ware“.
HH: „Convenient“ klingt ja immer so ein bisschen wie vorgekaut.
R. K.: Ich darf doch sehr bitten! (Schmunzelt) Im Grunde bedeutet das doch nichts anderes als „praktisch, vorbereitet oder passend“. Was ist daran auszusetzen?
HH: Natürlich erst mal nichts, aber …
R. K.: … und darum lassen Sie mich vielleicht besser mal ausreden, das ist dann auch besser für Ihren Blutdruck. (Zwinkert)
HH (atmet tief aus): Ich bin ganz Ohr.
R. K.: Sie kommen ganz schnell von selber drauf, wenn Sie sich erinnern, dass wir bei Obst/Gemüse keine TK-Ware handeln. „Convenient“ bedeutet also bei uns nicht „Fertiggericht, gewürzt, in Soße, zum Auftauen“, sondern „küchenfertig vorbereitet“. Frisch vorbereitet.
HH: Geschnippelt?
R. K.: Wenn Sie das so nennen wollen. Welcher Gastronom hat heute noch Zeit oder Kapazitäten, um 20 Kilo Kartoffeln zu schälen, zu waschen und zum Beispiel zu stifteln? Oder 15 Kilo Zwiebeln für den Zwiebelkuchen zu schälen und zu schneiden? Oder 1 Kilo Knoblauch zu schälen? Oder aus bis zu acht verschiedenen Zutaten einen schönen Bistro-Salat zusammenzustellen?
HH: Wahrscheinlich die wenigsten.
R. K.: Und darum geht dieses Warensegment, also „Convenient“ mit frischer, perfekt vorbereiteter Ware, geradezu durch die Decke. Das einzige Manko ist das Mindesthaltbarkeitsdatum. Diese Ware muss wirklich schnell verarbeitet werden, weil geschält und frisch sich nicht unbedingt gut miteinander verstehen.
HH: Logisch. Was heißt denn „durch die Decke“?
R. K.: Das heißt, dass wir in diesem Segment Umsatzzuwächse im zweistelligen Bereich haben. Konstant!
HH: Nicht schlecht …
R. K.: Ja. Gut für alle. Denn das bisschen, was die Ware mehr kostet, holt man sich in der Küchenzeit doppelt und dreifach zurück. Bei vergleichbarer Qualität und Frische, wohlgemerkt. Wie gesagt muss man nur auf die Haltbarkeit achten, aber für einen guten Koch ist das keine Sache.
HH: Vom Safran zu vorgeschälten Bratkartoffeln. Ganz schön bunt, Ihr Beruf …
R. K.: Ja, aber das ist es ja, was wir lieben. Langeweile kommt bei uns einfach nicht auf.
HH: Gehen Sie eigentlich wirklich abends noch mal in einen Markt?
R. K.: Ja. Aber nicht zur Kontrolle, sondern für dieses Gefühl, dass es heute gut gelaufen ist und damit sich diese zufriedene Stimmung einstellt.
HH: Ähm …
R. K.: Ja, gut. Ich gebe zu, dass ich, wenn ich schon mal da bin, schon noch mal kurz über die Auslage gucke. Ich kann halt nicht aus meiner Haut … (Schmunzelt)
HH: Kein Kommentar. Ich denke, das spricht für sich …
Interview und Redaktion: Joachim van Moll