Dirk Nennen im Interview: Reifung

Was kann und was sollte man über Fleisch wissen? Was ist wichtig, worauf kommt es an? Dirk Nennen stellte sich mit endloser Geduld und überaus fachkundig unseren zahllosen Fragen. Das Gespräch hat – unseren Erwartungen zum Trotz – sieben Stunden gedauert, sodass wir uns dazu entschieden haben, es in mehreren Blöcken aufzubereiten.

Lesen Sie hier, warum der Transport gut für das Fleisch ist, was „frisch“ bedeutet und was das Ganze mit Zartheit und Geschmack zu tun hat.

Reifung und Geschmack

Handelshof: Herr Nennen, was ist „Gefrierbrand“?

Dirk Nennen: Wie kommen Sie denn jetzt darauf?

HH: Ich wollte über Frische, Lagerung und Transport zu sprechen kommen.

DN: Und fangen gleich mit so einem Negativbeispiel an?

HH: Ja, weil es danach nur noch besser werden kann.

DN: Na dann … (schmunzelt) Also, Gefrierbrand gibt es natürlich gar nicht, hier brennt ja schließlich nichts. Den Begriff haben sich damals die Gefrierbeutelhersteller ausgedacht, weil er bedrohlich klingt und den Absatz spezieller Tüten ankurbeln sollte, die den Prozess verhindern sollen.
Das Phänomen ist, dass sich, wenn Fleisch nicht ausreichend luftdicht verpackt eingefroren wird, auf seiner Oberfläche Eiskristalle bilden. Anders gesagt: Die Kälte zieht die Feuchtigkeit aus dem Fleisch und lässt es austrocknen. Das ist Gefriertrocknung, sonst nichts.

HH: Also im Grunde nicht schlimm?

DN: Nein. Das Fleisch bleibt ja dasselbe und kann auch nicht verderben. Es sieht aber natürlich nicht mehr gut aus und ist eben trocken. Am Geschmack ändert sich nichts.

HH: Stichwort Kälte: Wird Rindfleisch aus Übersee für den Transport eigentlich eingefroren, damit es unterwegs nicht verdirbt und schön frisch hier ankommt?

DN: Besser nicht.

HH: Aber das ist doch manchmal wochenlang unterwegs.

DN: Zum Glück!

HH: Erleuchten Sie uns!

DN: Wissen Sie, was damals den riesigen Erfolg von argentinischem Rindfleisch hier bei uns ausgemacht hat? Und warum das Fleisch so außerordentlich zart ist?

HH: Äh …

DN: Das war nur der lange Transport. Die Stücke wurden luftdicht eingeschweißt, auf knapp über den Gefrierpunkt heruntergekühlt und dann auf Containern in aller Seelenruhe nach Europa verschifft. Drei Wochen dauerte die Reise, heute sogar noch etwas länger. Und als es dann hier ankam, war es perfekt nass gereift, nämlich 21 bis 28 Tage lang. Das hat mit den Rindern in Argentinien überhaupt nichts zu tun. Das war nur der lange Seeweg. „Wet-Aging on the go“ könnte man sagen.

HH: Wieder etwas gelernt. Frisch und reif widersprechen sich also nicht?

DN: Ganz und gar nicht. Frisch bedeutet ja nur, dass das Fleisch nicht verdorben und verzehrsicher ist. Frisch bedeutet nicht „neu“, sondern am ehesten noch „roh“ oder „nicht verarbeitet“.

HH: Ich hatte neulich ein Steak, das angeblich 28 Tage Reifung hinter sich hatte und zäh wie eine Schuhsohle war …

DN: Das ist nicht möglich. Ein Steak mit 28 Tagen ist immer zart und saftig. Ohne Ausnahme. Da hat man Sie wohl ver...

HH: Was passiert eigentlich genau während der Reifung?

DN: Ungefähr 30 bis 40 Stunden nach der Schlachtung beginnt die im Fleisch natürlicherweise vorhandene Milchsäure damit, die winzigen Proteinstrukturen aufzubrechen, was dafür sorgt, dass das Stück zart wird. Hätte die Milchsäure uns die Arbeit nicht vorher schon abgenommen, dann müssten wir sie leisten.

HH: Durch heftiges Kauen?

DN: Exakt.

HH: Das ist jetzt blöd für europäisches Fleisch, oder?

DN: Sie meinen, weil hier die Wege so kurz sind? Das stimmt in gewisser Weise sogar. Stellen Sie sich mal die Gebäude vor, die man bräuchte, wenn man sämtliche Rinder 21 oder 28 Tage reifen lassen wollte.

Aber es muss ja auch nicht jeder Cut so lange liegen. Braten zum Beispiel und viele andere Stücke werden allein schon durch ihre Zubereitung zart. Und bei Steaks kann man entweder gezielt reifes Fleisch kaufen oder jüngeres Material speziell vorbereiten. 

Steckbrief

Dirk Nennen, Jahrgang 1968, ist Metzgermeister mit Leib und Seele. Von der kleinen Dorfmetzgerei, wo er seine Ausbildung machte, führte ihn sein Weg über verschiedene Stationen schließlich zum Handelshof, wo er seit 2003 den zentralen Fleischeinkauf leitet. Dirk Nennen betreut in 18 Filialen über 100 Mitarbeiter, die meisten davon qualifizierte Metzger.

Wenn der passionierte Mountainbiker und Motorsportfan seinen Holzkohlegrill anschmeißt, dann kommen fast immer auch seine beiden liebsten Cuts auf den Rost: Ribeye-Steak und Dry-aged-Schweinenackensteaks von der Handelshof-Eigenmarke „Duke of Berkshire“. Beide medium rare.

HH: Sous vide?

DN: Zum Beispiel. Ein junges Flat-Iron-Steak aus dem Schaufelstück 18 Stunden bei 52 Grad sous vide gegart, dann noch kurz auf den Grill – das ist wirklich ein Gedicht und schmilzt auf der Zunge … Aber sehr langsames Niedertemperaturgaren im Ofen oder gute Marinaden können auch Wunder bewirken.

HH: Gibt es eine Obergrenze bei der Reifung? Ich meine, irgendwann muss das doch gammeln.

DN: Klar gibt es die, irgendwann ist es keine Reifung mehr, sondern Verwesung. Nach 30 Tagen ist das Fleisch so zart, wie es überhaupt nur werden kann. Alles, was danach kommt, dient nur noch der noch kräftigeren Ausbildung von Aromen und Geschmack. Das funktioniert aber nicht mehr beim Wet-Aging, hier muss man auf Dry-Aging setzen.

HH: Dry-Aging ist ja ziemlich populär im Moment.

DN: Ja, obwohl es eigentlich die klassische Reifung ist, die man seit Hunderten von Jahren einsetzt. Die Tiere werden nach der Schlachtung in Hälften oder in sehr große Stücke geschnitten, das Fleisch verbleibt am Knochen, und dann wird das Ganze gut gekühlt in ziemlich trockene Luft gehängt. Wir reden ja heute noch von einem „gut abgehangenen Stück“. Das kommt daher.

HH: Was ist der große Vorteil beim Dry-Aging?

DN: Das Fleisch ist nach 30 Tagen genauso zart wie bei der Nassreifung. Der größte Unterschied ist, dass trocken gereiftes Fleisch wegen des geringeren Flüssigkeitsanteils länger frisch bleibt und entsprechend mehr Zeit hat, Geschmacksnoten auszubauen.

HH: Das ist alles?

DN: Ja. Es geht ausschließlich um den Geschmack. Na ja – und ein bisschen Exklusivität und Lifestyle spielen da bestimmt auch mit rein. Ist ja auch – aus nachvollziehbaren Gründen – teurer im Vergleich. Der Aufwand beim Dry-Aging ist schon ziemlich hoch.

HH: Wenn ich mir Ihr Sortiment so ansehe, bieten Sie also verschiedene Qualitäten an.

DN: (hebt kurz die Stimme und schaut plötzlich sehr streng) Nein! Tun wir nicht! Sie verwechseln Qualität mit Reifung! Die Qualität aller unserer Stücke ist überall extrem hoch, darauf legen wir größten Wert. Reifung ist kein Qualitätsmerkmal, sondern eine weitere Veredelung von ohnehin sehr gutem Fleisch. Klar so weit?

HH: Entschuldigung. Jawoll, Euer Ehren. Kapiert. (beide grinsen)

Interview und Redaktion: Joachim van Moll